Der Spiegel von Feuer und Eis
über ihre Spuren. Kalte Böen fauchten die Schneise entlang, trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie bewegte sich weiter. Der Schnee fiel immer dichter. Sie wischte sich seine Kälte aus dem Gesicht, stieg einen kleinen Hang hinauf. Unter der weißen Decke war Geröll. Waren sie auf dem Weg zum Dorf auch hier entlanggekommen? Wahrscheinlich, denn sie folgte ja immer noch der Schneise. Sie blickte zurück, sah nach rechts und links. Um sie herum standen die Bäume dicht an dicht. Sie war vom Weg abgewichen, ohne es im Dunkeln zu merken. Irgendwo war die dritte Falle versteckt.
Mühsam kämpfte sie die Angst nieder, holte ein paar Mal tief Atem. Sie würde einfach in ihren eigenen Fußstapfen zurückgehen. Ihr Knie schmerzte inzwischen wieder stärker und zwang sie zu kleinen, hinkenden Schritten. Ihre Spuren waren nur noch zu erahnen. Verwirrt runzelte sie die Stirn, als sie unvermittelt scharf rechts abbogen. Sie wischte sich kalte Flocken von den Wimpern, ehe sie schmolzen und ihr in die Augen rannen, folgte weiter dem niedergetretenen Schnee. Zumindest ging es immer noch abwärts. Der Wind biss ihr scharf ins Gesicht. Vor ihr bewegte sich etwas zwischen den Bäumen. Sie blieb stehen. Da! Wieder! Diesmal war sie sich sicher, dass sie etwas gesehen hatte. So schnell sie konnte, hinkte sie darauf zu. Doch sie blieb wie angefroren stehen, als sie zwischen den Stämmen hindurch den Steilhang sah – und die riesige weiße
Bestie davor. Mit angehaltenem Atem duckte sie sich hinter einen Baum. Ihr Herzschlag setzte aus. Ein Firnwolf! Erde und Feuer, er wird mich wittern! Er muss einfach!
Sie presste die Hand vor den Mund, um ihre panischen Atemzüge zu dämpfen. Halb im Schnee verborgen, lagen die blutigen Überreste von etwas, von dem sie nicht sagen konnte, was es zu Lebzeiten gewesen war. Erde und Feuer! Erde und Feuer! Erde und Feuer!
Das weiße Monster rührte sich nicht. Es war groß. Vermutlich hätte sie auf dem Vieh reiten können. Zwischen seinen Augen begann ein schwarzer Streifen, zog sich von seinem Kopf über den ganzen Rücken. Kalt trafen Flocken ihr Gesicht, und nur allmählich begriff sie, dass der Wind aus der Richtung der Bestie kam. Zumindest für den Augenblick würde er sie nicht wittern können. Hoffentlich! Sie zuckte zusammen, als seine Ohren sich aufrichteten. Um ein Haar hätte sie gestöhnt, als zwei weitere dieser Ungeheuer ein gutes Stück von ihr entfernt zwischen den Bäumen hervortraten. Sie waren bei Weitem nicht so groß wie die erste Bestie und näherten sich ihr leicht geduckt. Ihre buschigen Ruten strichen andeutungsweise über den Schnee, während sie ihm zur Begrüßung von unten mit leisem Winseln die Schnauze leckten. Dann drehte sich der Weiße mit dem schwarzen Streifen um und verschwand zusammen mit dem kleineren, zierlicheren der Neuankömmlinge im Steilhang. Offenbar verbarg sich eine Höhle in den Felsen. Auch das dritte Ungeheuer folgte den beiden anderen einen Moment später. Es schleppte die Überreste der Beute mit sich. Nur eine rote Spur blieb im Schnee zurück.
Ganz langsam richtete Cassim sich auf, entfernte sich Schritt für Schritt, ohne den Höhleneingang aus den Augen zu lassen. Sie stieß gegen einen Ast. Eine Schneekaskade rauschte zu Boden. Mit angehaltenem Atem blieb sie stehen. Wartete. Die Bestien zeigten sich nicht. Sehr viel vorsichtiger ging sie weiter, tastete sich von Baum zu Baum. Erst als sie den Steilhang
nicht mehr sehen konnte, drehte sie sich um und lief schneller. Kalt schlug der Wind ihr ins Gesicht und zerrte an ihrem Umhang. Als das dunkle Heulen hinter ihr erklang, rannte sie um ihr Leben.
Zweige peitschten ihr entgegen, immer wieder glitt sie aus, stolperte, fing sich im letzten Moment und rannte weiter, stürzte, kam mühsam wieder auf die Beine und hetzte vorwärts. Der Mantel verfing sich irgendwo, würgte sie, riss sie zu Boden. Sie zerrte, um ihn freizubekommen, nestelte schließlich panisch an der Fibel, ließ ihn zurück, floh weiter. Immer wieder erklang das Heulen hinter ihr. Jedes Mal ein Stück näher, wie ihr schien. Sie glaubte, das Geräusch riesiger Pfoten im Schnee zu hören. Ihr Knie gab unter ihr nach. Schmerz tobte darin. Sie glitt aus, rutschte einen Abhang hinab, fiel hart gegen einen Baum. Eine Schneelawine ging auf sie nieder, zwang sie zu Boden. Sie mühte sich aus der Kälte heraus. Über ihr erklang erneut ein Heulen. Cassim riss den Kopf hoch, sah eine der weißen Bestien oben am Hang, warf sich herum und
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