Der Spiegel von Feuer und Eis
rannte weiter. Unvermittelt endete der Wald, sie sah die Hütten unter sich, floh darauf zu. Ihre Füße trafen auf Eis, sie glitt aus, schlug hart hin, kam wieder auf die Beine, rannte weiter. Plötzlich ein Knacken und ihr nächster Schritt ging ins Leere.
Lähmende Kälte schlug ihr entgegen, schloss sich über ihr. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei. Wasser füllte ihre Kehle, erstickte jeden Laut, drang in ihre Lungen. Sie versuchte aufzutauchen, ihre Hände stießen gegen Eis. Verzweifelt tastete sie, hieb dagegen. Ihre Brust brannte im Verlangen nach Luft. Die Kälte sog mit der Wärme den letzten Rest Kraft aus ihren Gliedern. Ihre Hände glitten panischer über das Eis.
Etwas berührte ihr Bein. Sie wandte den Kopf. Ein weißes Gesicht. Wogendes silbriges Haar. Fahl schillernde Augen. Eine dreifingrige Hand schloss sich um ihren Knöchel. Zog sie in die Tiefe. Sie trat um sich. In einem verzweifelten Schrei, der nur ein Gurgeln war, stieg der letzte Rest ihrer Luft als schimmernde
Blasen zur Eisdecke hinauf. Um sie her war nur noch Dunkel. Der Griff zog sie abwärts. Abwärts. Abwärts. Abwärts in eisiges Nichts. Über ihr wogte das Wasser des Sees.
Tot zu sein, war gar nicht so schrecklich. Um sie herum herrschte angenehme Wärme, die selbst die Kälte erträglich machte, die in ihren Knochen nistete. Das Knistern und Knacken eines Feuers war zu hören. Der Geruch von Kräutern hing in der Luft. Müde hob sie die Lider, blinzelte ein paar Mal, bis die Schleier vor ihren Augen verschwanden. Wuchtige hölzerne Balken trugen eine von Rauch dunkle Decke. Langsam wandte sie den Kopf. Eine weiß gekalkte Wand. Sie ließ den Blick an ihr entlangwandern. Ein rußiger, gemauerter Kamin. In ihm brannte das Feuer. Davor stand ein Mann. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Sie blinzelte erneut. Flammenschein spielte über seine wie Mondstein schimmernde Haut. Lang und schwarz fiel das Haar über seine breiten Schultern. Die Hosen, die er trug, konnten nicht seine eigenen sein. Sie waren viel zu weit und saßen gefährlich tief auf seinen schmalen Hüften. Er war eher sehnig als muskulös. Scheinbar nachdenklich blickte er ins Feuer, beugte sich vor, streckte die Hände darüber. Die Flammen schlugen höher, beleuchteten sein Gesicht, verwandelten es in ein Spiel aus Schatten und Licht.
»Morgwen?« In ihrer Brust erwachte ein Krampf. Sie musste husten.
Er war herumgefahren, kam jetzt zu ihr herüber. Über seine Schulter liefen drei blauviolett gefärbte Kratzwunden. Jemand hatte seine Handflächen ein weiteres Mal mit sauberem Leinen verbunden. Cassim rang noch immer mühsam nach Atem, als er sich neben sie auf die kratzige Matratze setzte. Tot zu sein, war doch nicht ganz nach ihrem Geschmack.
»Du bist aufgewacht, Flammenkatze. – Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
»Sorgen?« Ihre Stimme war nur ein dünnes Krächzen. Noch nie zuvor hatte sie sich so schwach gefühlt.
Er griff nach etwas neben dem Bett. Ein tönerner Becher. Vorsichtig schob er den Arm in ihren Nacken, stützte ihren Kopf und gab ihr zu trinken. Wasser. Mit dem Geschmack von Eis und Kräutern. »Ja, Sorgen.« Er nahm den Becher für einen Moment von ihren Lippen, damit sie Atem schöpfen konnte, und blickte ärgerlich auf sie hinab. »Frostfeuer, was hattest du mitten in der Nacht da draußen auch zu suchen?«
»Dich.« Sie klang wie eine schwindsüchtige Krähe.
Morgwen hatte schon wieder Luft geholt, möglicherweise um seinem Unmut ein gutes Stück deutlicher und umfassender Ausdruck zu verleihen. Was auch immer er hatte sagen wollen, er schluckte es hinunter und schloss geräuschvoll den Mund. Unter zusammengezogenen Brauen heraus musterte er sie.
»Mich?«, vergewisserte er sich dann nach einer kleinen Ewigkeit.
Cassim nickte schwach, klammerte sich mit beiden Händen an den Becher, den er ihr wieder an die Lippen setzte. Der Geschmack von Eis und Kräutern linderte die Kälte und das Brennen in ihrer Brust.
»Mich.« Er schüttelte den Kopf. »Ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass du dir um mich keine Sorgen machen musst?« Der Ton in seiner Stimme schwankte zwischen Erstaunen und Belustigung.
»Fallen! … Drei!«, brachte sie zwischen zwei Schlucken hervor.
»Drei … Du wolltest … Du wolltest mich warnen?« Verblüffung malte sich auf seinen Zügen.
Wieder nickte Cassim. Müde ließ sie zu, dass er den leeren Becher beiseitestellte, lehnte sich in seinen Arm und schloss die Augen.
Sie musste eingeschlafen
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