Der Spiegel von Feuer und Eis
die Lider. Morgwen beugte sich über sie, musterte sie angespannt. Nur zögernd gab sein Griff sie frei.
»Was ist passiert?« Ihr Hals fühlte sich rau an.
»Was passiert ist?« Seine Eisaugen musterten sie voller Unglauben. »Ich hatte gehofft, das könntest du mir erklär…«
»Ihr ewigen Feuer!« Gerdans Ausruf ließ ihn mitten im Wort verstummen.
Verblüfft verfolgte er, wie sie sich hastig nach etwas bückte, das zwischen Cassims Füßen lag – und nach Luft schnappte. »Was …?«
»Das kann nicht sein.« Fassungslos blickte Gerdan auf den Goldrubin in ihren Händen. Die Flammen loderten in seinem Rot, ließen die goldenen Schlieren in seinem Inneren tanzen. Sie schüttelte den Kopf, sah Cassim an. »Er war zerschlagen. Kaylen hat ihn mit Absicht zerschlagen. – Wie hast du …« Ihre Augen weiteten sich. »Du bist …« Sie schluckte, presste die Hand vor den Mund, starrte Cassim weiter an. »Du bist die, von der die alten Zauber sprechen. Die, die das Wispern der Edelsteine hören kann. Die, die die Gabe besitzt, ihre Risse und Sprünge zu heilen.« Dann wich auf einen Schlag alles
Blut aus Gerdans Gesicht. Ihre Finger gruben sich schmerzhaft in Cassims Arme. »Wo warst du?«
»Ich verstehe nicht …« Cassim versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch Gerdan fasste nur noch fester zu.
»Wo warst du, bevor ich Kaylen an die Macht der Spiegelsplitter verloren habe?« Sie schüttelte Cassim. »Wo warst du, bevor er sich verändert hat? Wo …«
»Das reicht!« Plötzlich ragte Morgwen über ihnen auf. Gerdans Griff löste sich unter seinen Händen. Ein leiser Schrei drang aus ihrer Kehle. Er stieß sie zurück, zog Cassim in der gleichen Bewegung von ihr fort und schob sie hinter sich, aus ihrer Reichweite.
»Du hättest all das verhindern können!« Nichts als Anklage war in Gerdans Worten. »Warum bist du nicht früher gekommen? Warum erst jetzt?« Aus Anklage wurde Verzweiflung. »Warum?«
»Ich wusste nichts von diesem Spiegel.« Cassim wollte an Morgwen vorbei. Sein ausgestreckter Arm hinderte sie daran. »Bitte, Gerdan, glaubt mir. – Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meiner Gabe …«
Gerdans bitteres Schnauben ließ sie verstummen. »Die alten Zauber sprechen von ihr und sie hat keine Ahnung.« Kopfschüttelnd sah sie Cassim an. »Denkst du wirklich, ich glaube das? Jedes Kind kennt die alten Zauber. Selbst die Kleinsten wissen von dem Spiegel von Feuer und Eis.«
»Ich wusste nichts von ihm.«
Einen Moment lang musterte Gerdan sie. Dann ging ihr Blick zu Morgwen. »Sie hat dich geschickt, nicht wahr?« Sie sprach vollkommen tonlos, als ihre Augen dann zu Cassim zurückkehrten.
»Sie?« Verwirrt schaute Cassim sie an.
Gerdans Mund verzog sich. »Natürlich sie, die Eiskönigin. Du sollst den Spiegel für sie wieder zusammensetzen. Dazu brauchst du aber Kaylens Splitter.«
»Nein, ich …«
»Versuch nicht, es zu leugnen. Warum sonst sollte er«, sie nickte zu Morgwen hin, »bei dir sein.« Ihre Feueraugen sahen ihn abschätzend an. »Was hat deine Herrin dir versprochen, wenn du auf ein Menschenmädchen aufpasst und dafür sorgst, dass sie tut, was man von ihr erwartet? Deine Menschenhälfte zu tilgen und eine wahre Eisdryade aus dir zu machen? Oder möchtest du lieber ein Mensch werden? – Was auch immer du dir erhoffst: Sie kann es dir nicht geben! Du wirst immer zwischen beiden Welten gefangen sein. In keiner zu Hause und von beiden verachtet. Finde dich damit ab!«
»Er ist nicht …«, versuchte Cassim, Morgwen zu verteidigen, doch erneut unterbrach Gerdan sie.
»Nein? – Was macht dich so sicher? Sein schönes Gesicht? Seine hübschen Augen? – Oh, natürlich hat Sie einen ausgewählt, dem man seine menschliche Hälfte ansieht; der nicht verhehlen kann, dass südliches Blut in seinen Adern fließt; der es versteht, das Vertrauen eines Menschenmädchens zu gewinnen.« Ihr Blick ging für einen Moment an ihnen vorbei, zu dem Lager, das sie sich in der Nacht geteilt hatten. »Einen, den sie sogar unter ihre Decken lassen würde, obwohl er kalt ist.« Sie lachte leise. »Vielleicht hat Sie seine Qualitäten ja schon persönlich auf die Probe gestellt. Womöglich nimmt er gewöhnlich den Platz des Eisprinzen ein, wenn Ihr Sohn selbst Ihr nicht zu Diensten ist.«
»Das ist nicht wahr!« Cassims Atem trieb als fahle Wolke in der plötzlich kalten Luft davon. Obwohl ihre Worte an Gerdan gerichtet waren, sah sie Morgwen an. Die Art, wie er vor ihr stand, die Hände zu
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