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Der Spion, der aus der Kälte kam

Titel: Der Spion, der aus der Kälte kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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er Lehrer war. Bei der Sammlung im Anschluß an die Versammlung hatte Ashe ein Pfund gegeben; sie war verblüfft gewesen. Er hatte ihren Namen beim Londoner Distrikt erwähnt, und der Londoner Distrikt hatte ihn an die Zentrale weitergegeben, oder so ähnlich. Natürlich blieb es eine seltsame Art, derartige Angelegenheiten zu regeln. Aber diese Geheimnistuerei gehörte wohl nun einmal zu einer revolutionären Partei. Zwar machte es keinen guten Eindruck auf sie, weil es so nach Unaufrichtigkeit aussah, aber sie dachte, es sei wohl notwendig, und es gab, weiß Gott, genug Leute, für die das etwas Erregendes war. Sie las den Brief nochmals. Er trug den fettgedruckten roten Briefkopf der Zentrale und begann mit »Liebe Genossin«. Liz empfand das als unangenehm militärisch. Sie hatte sich nie richtig an »Genossin« gewöhnen können.
    Liebe Genossin, wir haben uns kürzlich mit Genossen von der Sozialistischen Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik wegen der Möglichkeit eines Austausches von unseren Parteimitgliedern mit den Genossen im Demokratischen Deutschland besprochen. Es wurde geplant, die Voraussetzungen für einen Austausch der Mitglieder unserer beiden Parteien zu schaffen. Die SED weiß, dass ihren Delegierten durch die diskriminierenden Vorschriften des britischen Innenministeriums in unmittelbarer Zukunft keine Einreise ins Vereinigte Königreich möglich sein wird, aber sie glaubt, dass gerade deshalb ein Erfahrungsaustausch besonders wichtig wäre. Man hat uns großzügigerweise eingeladen, fünf erfahrene Bezirkssekretäre auszuwählen, die bereits den Nachweis erbracht haben, dass sie die Massen zu Aktionen auf den Straßen anfeuern können. Jeder ausgewählte Genosse wird drei Wochen damit verbringen, Parteiversammlungen beizuwohnen, Fortschritte in der Industrie und der sozialen Wohlfahrt kennenzulernen und aus erster Hand die Beweise der faschistischen Provokation durch den Westen zu studieren. Dies ist eine große Gelegenheit für unsere Genossen, aus den Erfahrungen eines jungen sozialistischen Systems zu lernen.
    Wir haben deshalb den Distrikt ersucht, uns solche junge Arbeiter aus den Kadern seines Gebietes zu melden, die den größten Nutzen aus dieser Reise ziehen können. Ihr Name ist uns genannt worden. Wenn es sich irgendwie ermöglichen läßt, wünschen wir sehr, dass Sie an dem Austausch teilnehmen und dadurch zur Verwirklichung des zweiten Teiles in diesem Plan beitragen, nämlich zur Herstellung eines Kontaktes zwischen Ihrer eigenen Parteigruppe und einer solchen in der Deutschen Demokratischen Republik, deren Mitglieder aus einem vergleichbaren Industriemilieu stammen und ähnliche Probleme haben. Die Ortsgruppe Bayswater-Süd wird deshalb mit Neuenhagen, einem Vorort von Leipzig, in Verbindung gebracht. Frieda Lüman, Sekretärin des Neuenhagener Bezirkes, bereitet einen großen Empfang vor. Wir sind überzeugt, dass Sie die richtige Genossin für diese Aufgabe sind und dass Ihr Unternehmen ein sehr großer Erfolg wird. Alle Unkosten werden vom Kulturamt der Deutschen Demokratischen Republik getragen.
    Wir sind überzeugt davon, dass Ihnen die Ehre dieses Auftrages klar ist, und wir vertrauen darauf, dass Sie sich nicht durch persönliche Überlegungen von der Ausführung des Auftrages abhalten lassen werden. Die Abreise ist für das Ende des nächsten Monats vorgesehen, also für etwa den 23. Die ausgewählten Genossen werden getrennt reisen, da ihre Einladungen nicht gleichzeitig sind. Wollen Sie uns bitte so bald wie möglich wissen lassen, ob Sie annehmen können. Wir werden Sie dann über weitere Einzelheiten unterrichten.
    Je öfter sie es las, desto seltsamer kam es ihr vor: die Benachrichtigung so kurz vor dem Reisetermin, und woher wußten sie, dass sie bei der Bibliothek wegkonnte? Dann fiel ihr zu ihrer eigenen Überraschung wieder ein, dass sich Ashe nach ihren Ferienplänen und danach erkundigt hatte, ob sie in diesem Jahr bereits Urlaub genommen habe, und ob sie Urlaubstermine schon immer lange im voraus anmelden müsse. Weshalb teilte man ihr nicht mit, wer die anderen Kandidaten waren? Sicherlich gab es keinen besonderen Grund, es ihr mitzuteilen. dass man es unterließ, war dennoch sonderbar. Auch war es ein so langer Brief. Bei der Zentrale gab es so wenig Schreibkräfte, dass die Briefe gewöhnlich sehr kurz gefaßt waren, wenn man die Genossen nicht einfach bat, im Sekretariat anzurufen. Dieser hier war so sauber und gut getippt, dass er gar

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