Der Spion der Zeit
Zikaden mit ihrem Lied.
X
(Nachdem Van Upp die Nonne begrüßt und sich das letzte Gespräch mit Quiroz in Erinnerung gerufen hatte, verweilte er noch ein paar Minuten im Kloster. Er betrachtete die dunkle Statue, in deren Schatten sie sich unterhalten hatten. Bis dahin hatte er ihr keine sonderliche Beachtung geschenkt. Es handelte sich um einen Engel, der einen zerbrochenen Krug in den Armen trug. Der ganze Park war voller Statuen von Engeln mit klangvollen Namen: Sahaquiel, Gabriel, Haniel, Rafael, Uriel, Raguel, Michael; alle waren sie weiß, der Inbegriff von Reinheit. Der Engel war zusammengekauert, als wäre die Last des Kruges zu schwer oder als ducke er sich wie ein Dieb in der Nacht. Van Upp stand vor dem Engel, als der Schmerz ihn in die Knie zwang. Unter Qualen hörte er eine Stimme, die sagte, er trage etwas Böses in sich, und er sah seinen Vater und den Chinesen, die Pistole und das Feuer und den dunklen Engel, und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.)
XI
Der quirlige kleine Mann mit dem funkelnden Blick, der ihm die Tür öffnete, reichte Van Upp bis zur Hüfte. Die riesige Mütze machte ihn noch ein paar Zentimeter größer. Er stellte sich als Dufresne vor, bat ihn herein und sagte geheimnisvoll, er werde bereits erwartet.
Van Upp folgte ihm durch einen endlosen Flur. (Das Gebäude des Episkopats war das reinste Labyrinth.) Alle paar Schritte drehte Dufresne sich nach ihm um, als fürchte er, er habe sich hinter ihm in Luft aufgelöst.
Er deutete auf den Eingang zu einem Saal und bat ihn, dort zu warten. Eine Reihe von verglasten Türen führte auf einen Balkon hinaus. Durch die gelblichen Milchglasscheiben drang trübes Licht.
Es dauerte etwas, bis Kardinal Vicco kam. Er war mit Calabert unterwegs gewesen und eigens seinetwegen herbeigeeilt. Ihm war gerade noch Zeit geblieben, sein Messgewand abzulegen; der dunkle Anzug wirkte ausgebeult. Er strich eine rebellische Haarsträhne glatt, schloss leise die Tür und lehnte sich gegen den Türflügel.
»Tee? Kaffee? Tun Sie sich keinen Zwang an. Stört es Sie, wenn ich mich setze?«, fragte der Kardinal und ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Bevor ich es vergesse: Pater Quiroz lässt Sie grüßen. Er sagte, er hoffe, Sie bald wiederzusehen, in Rom natürlich.«
»Ist er schon abgereist?«
»Heute Morgen.«
»Ich habe mich gefragt, warum man ihn in dieses Kloster gesperrt hat.«
»Eine Entscheidung des letzten Papstes«, sagte Vicco. »Zum Glück ist der jetzige Heilige Vater nicht ganz so orthodox.«
Der Kardinal bat ihn, Platz zu nehmen. Van Upp zog es vor, stehen zu bleiben, in vorsichtigem Abstand und außerhalb der Reichweite des gelben Lichtes.
»Vor vierzig Jahren hat Pater Quiroz damit begonnen, die Texte der Gnostiker zu studieren«, sagte Vicco leicht indigniert, weil Van Upp sein Angebot abgelehnt hatte. »Ich denke, Sie wissen, wovon ich spreche. Die Sekte der Gnostiker. Simon Magus, Valentinus, Thomas Didymus, Basilides …«
Van Upp verzog keine Miene.
»Die Gnostiker behaupten, Gott sei nicht Gott. Der Schöpfer der materiellen Welt sei Jaldabaoth oder auch Saklas oder Samael, was so viel bedeutet wie der blinde Gott. Den Gnostikern zufolge beten wir den falschen Gott an. Ein Gedanke, der die Heilige Mutter Kirche nicht gerade glücklich macht. Sind Sie sicher, dass Sie nichts trinken möchten? … Aber Quiroz gab sich nicht mit den Texten zufrieden, die jedem Gelehrten zugänglich sind. Er nutzte seine Position und seine guten Kontakte im Vatikan, um an Dokumente zu gelangen, die, na ja, sagen wir, geschützt in den Kellern lagen. Er machte sich Notizen. Er reiste durch die ganze Welt und studierte immer neue Dokumente. Die Jahre vergingen. Ein Papst starb, und es kam der nächste, doch Quiroz war nicht von seiner Idee abzubringen. Der neue Papst – ich meine Calaberts Vorgänger – zweifelte an seinen Absichten. Wenn jemand sich so ausgiebig mit häretischem Gedankengut befasst …«
Van Upp zündete sich eine Zigarette an.
»Es ging das Gerücht um, Quiroz habe ein Buch geschrieben«, fuhr der Kardinal fort. »Wie üblich wurde er gebeten, die Quellen vorzulegen. Und in der Tat betrachtete Quiroz die gnostischen Argumente allzu … wie soll ich es ausdrücken? – wohlwollend. Er glaubte, wir wären einer Täuschung kosmischen Ausmaßes aufgesessen. Er war sicher, seine Argumentation verteidigen zu können. Natürlich wurde das Buch nie gedruckt. Man erachtete die Veröffentlichung für unnötig. Es
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