Der Spion und die Lady
Gasthaus entfernt hatten, fuhr er ernster fort: »Vor zwei Tagen sind hier walisische Viehtreiber durchgekommen. Mein Bruder und die
›Behütete Unschuld‹ haben sich ihnen angeschlossen.«
»Ihr Bruder und wer?«
»Ich muß mich entschuldigen, aber ich habe es mir angewöhnt, Miss Collins als ›Behütete Unschuld‹ zu bezeichnen«, erwiderte er und wirkte ganz und gar nicht verlegen.
Desdemona machte ganz schmale Augen über seine Unverfrorenheit, hütete sich aber, ihn zurechtzuweisen. Zunächst wollte sie erfahren, was er wußte.
»Vermutlich sind sie inzwischen in Leicester«, fuhr er fort. »Im Hinblick auf Miss Collins bin ich mir nicht ganz sicher – offenbar hat sie eine Begabung dafür, unbemerkt zu bleiben –, aber jemand hat die Treiber mit Zaubertricks unterhalten. Das muß Robin gewesen sein. Schon als Junge war er fasziniert von Taschenspielereien und übte so lange, bis er ganz geschickt darin war.«
Das machte den Halunken ja fast sympathisch.
»Und wo war meine Nichte, als Lord Robert den Hanswurst spielte?« erkundigte sich Desdemona spitz.
»Auf ihrem Zimmer. Sie nahm ein Bad.« Der Marquis warf ihr einen bezeichnenden Blick zu.
»Miss Collins hatte also jede Möglichkeit zur Flucht. Und das läßt nur den Schluß zu, daß sie freiwillig mit Robin unterwegs ist.«
Desdemona schnaufte verächtlich.
Wolverhamptons Lippen verzogen sich, als müsse er ein Lächeln unterdrücken. »Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß mein Bruder Miss Collins angeboten hat, sie nach London zu begleiten. So etwas wäre durchaus typisch für ihn und würde bedeuten, daß sie sich in keiner Gefahr befindet.
Ganz im Gegenteil. Und das erklärt auch, warum die junge Lady nicht vor ihm geflüchtet ist.«
Obwohl Desdemona innerlich einräumte, daß der Marquis mit dieser Einschätzung durchaus recht haben könnte, war sie doch nicht bereit, das auch laut zu äußern. »Ihre Einbildungskraft ehrt Sie, aber ich bin keineswegs überzeugt.«
Sie setzte sich auf einen großen Felsblock und achtete sorgsam darauf, daß sie ihr voluminöser Umhang von Kopf bis Zeh einhüllte. »Maxima könnte sehr wohl gegen ihren Willen in ihr Zimmer eingesperrt worden sein. Darüber hinaus ist allgemein bekannt, daß eine genügend eingeschüchterte Frau zu ängstlich ist, um an Flucht auch nur zu denken. Ich werde erst überzeugt sein, wenn ich mit ihr gesprochen habe.«
»Irgendwie überrascht es mich nicht, das zu hören«, murmelte der Marquis, setzte sich neben sie und schlug ein Bein über das andere.
Sie musterte ihn kühl. »Was sind Ihre Absichten für den Fall, daß Sie die beiden vor mir finden?
Den Namen Ihrer Familie unter allen Umständen vor einem Skandal zu bewahren?«
»Das ist eine Möglichkeit.« Seine schiefergrauen Augen ließen sie nicht los. »Warten wir ab, bis es so weit ist.«
»Aber was werden Sie tun, wenn Sie gezwungen sind, zwischen der Gerechtigkeit und Ihrem Bruder zu entscheiden?«
Seufzend wandte der Marquis den Blick ab. »Ich hoffe aufrichtig, daß es dazu nicht kommt. Sie kennen das Mädchen, Lady ROSS. Ist es wirklich so untadelig, daß jeder Schritt vom Pfad der Tugend unvorstellbar erscheint? Ihre Nichte ist kein Kind mehr, und wie ich hörte, sind Amerikaner in gewissen Dingen nicht so strikt wie wir.«
Desdemona spürte, wie sie errötete.
Wolverhampton ließ sie nicht aus den Augen, und sie ahnte den Moment voraus, in dem ihm die intuitive Erkenntnis kam.
»Wie gut kennen Sie Miss Collins eigentlich?«
fragte er, und sein Blick wurde schärfer. »Miss Collins hält sich erst seit wenigen Monaten im Land auf, und Sie sagten, Sie wollten nach Durham, um sie zu besuchen.«
Desdemona spielte angelegentlich mit dem Jadegriff ihres Sonnenschirms. »Wir sind uns noch nie begegnet«, räumte sie mit halberstickter Stimme ein. »Wir haben jedoch ausgiebig miteinander korrespondiert, und ich glaube, sie sehr gut zu kennen. Sie ist ein sehr kluges, besonnenes Mädchen. Nie hatte ich Anlaß dazu, an ihrer moralischen Einstellung zu zweifeln.«
»Großer Gott, Sie haben das Mädchen noch nie gesehen?« Mit sichtbarer Anstrengung bemühte sich der Marquis dann wieder um einen gelasseneren Ton. »Vielleicht übertreiben Sie Ihre Sorge um Ihre Nichte ein wenig, Lady ROSS.
Meine Erkenntnisse legen den Schluß nahe, daß es sich um eine sehr unabhängige und energische junge Lady handelt. Wenn sie darüber hinaus eine tugendhafte Unschuld ist, so hat sie von meinem Bruder absolut
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