Der Spion und die Lady
nichts zu befürchten. Vielleicht sollten Sie nach London fahren und dort auf Ihre Nichte warten. Ich bin überzeugt davon, daß Miss Collins dort bald auftaucht, und Sie ersparen sich diese anstrengende und mühselige Suche.«
Lady ROSS stand auf und funkelte ihn zornig an.
»Vielleicht haben Sie recht und Maxima wird sicher nach London gelangen. Da ich jedoch nicht über Ihr geradezu rührendes Vertrauen in Ihren Bruder verfüge, werde ich meine Suche fortsetzen, bis ich mich persönlich von ihrem Wohlergehen überzeugt habe.«
Giles wäre enttäuscht gewesen, wenn sie sich von ihrem Vorhaben hätte abbringen lassen. Auch er stand auf und studierte ihr Gesicht, das ihn weit mehr interessierte als das Schicksal der Behüteten Unschuld. Die von ihrer Strohschute beschatteten Züge waren ausgeprägter, als es der gängigen Mode entsprach, aber wohlgeformt und sehr attraktiv. Ein Sonnenstrahl durchdrang das Stroh und zeigte ihm, daß die Brauen, die er für dunkel gehalten hatte, in Wahrheit kastanienbraun waren. »Welche Haarfarbe verbergen Sie eigentlich unter Ihrem höchst kleidsamen Hut?«
Ihre großen grauen Augen starrten ihn verdutzt an.
Obwohl Giles für gewöhnlich ein Muster an Schicklichkeit war, konnte er einem plötzlichen Drang nicht widerstehen. Ganz langsam, so daß sie ihn jederzeit hätte hindern können, wenn sie es gewollt hätte, trat er vor, löste die Bänder ihrer Schute und nahm sie ihr vom Kopf.
Der Anblick der feuerroten, dichten Flechten verschlug ihm den Atem. Ein paar Locken waren den Zöpfen entkommen und fielen ihr über den langen Schwanenhals. Jetzt sah sie nicht mehr aus wie eine intellektuelle Reformerin. Wenn sie diese Haare löste, würde sie aussehen wie eine heidnische Göttin.
»Jetzt sehen Sie, warum ich sie verstecke«, sagte Lady ROSS fast verlegen. »Sie sind irgendwie unanständig. Meine Schwägerin Lady Collingwood geriet in regelrechte Verzweiflung, als sie mit mir zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung ging. Sie erklärte, mein Äußereres würde eher zu einer Kurtisane passen als zu einer Lady.« Giles hatte nie groß über rote Haare nachgedacht, verspürte nun aber einen nahezu überwältigenden Drang, ihre Flechten zu lösen. Er wollte sich die schimmernden, rotgoldenen Locken durch die Finger gleiten lassen, sein Gesicht darin verbergen, damit er nichts anderes sehen und fühlen konnte, als diese dichten, glänzenden Haarsträhnen.
Allmächtiger, was war nur in ihn gefahren? Er näherte sich seinem vierzigsten Geburtstag und war damit weiß Gott über das Alter hinaus, in dem einem rohe, sexuelle Lust die Sinne verwirrte.
»Grundsätzlich sind Haare weder moralisch noch unmoralisch«, erklärte er, nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte.
»Da bin ich mir nicht so sicher«, entgegnete sie fast kläglich. »Jedenfalls habe ich festgestellt, daß ich sie verstecken muß, wenn ich ernst genommen werden möchte.«
»Schon von Anfang an hatte ich den Eindruck, daß Ihre Besorgnis für Ihre Nichte größer ist, als es die Situation erfordert. Warum mißtrauen Sie Männern so?« Desdemona wandte den Blick ab.
Ihr Teint hatte den milchweißen Schimmer aller Rothaarigen. »Ich mißtraue keineswegs allen Männern. Väter und Brüder sind ganz passabel –
und einige andere auch.«
Das erklärte vieles. »Wie ich hörte, soll Ihr Mann, Sir Gilbert, ein eher unsteter Typ gewesen sein«, bemerkte Giles ruhig.
Ihr Kopf fuhr herum, ihre Züge verhärteten sich.
»Sie maßen sich Dinge an, die Ihnen nicht zukommen, Mylord. Wenn ein Mann Ihres Rufes so impertinent sein kann, überrascht es mich kaum, daß Ihr Bruder ein radikaler Halunke ist.«
Sie entriß ihm ihre Schute, setzte sie sich heftig auf und schritt von dannen. Trotz der verhüllenden Falten ihres Umhangs wirkte ihr Rücken sehr gerade.
Giles machte sich bewußt, daß er sie bisher nur in diesem unförmigen Zelt von Umhang gesehen hatte. Er fragte sich, wie sie wohl ohne diesen Kokon aussah. Auch wenn sie recht stämmig wirkte, schien sie doch eine Menge weiblicher Kurven zu besitzen. Und er mochte mollige Frauen. Höchst bedauerlich, daß die Lady so reizbar war.
Der schnelle Abgang von Lady ROSS wurde durch ihre leichten Schuhe ebenso behindert wie durch die Notwendigkeit, sich ihren Weg durch das hohe Gras mit Bedacht zu suchen. Mit wenigen Schritten hatte er sie eingeholt. »In zwei Tagen werden die Viehtreiber durch Market Harborough kommen. Sie könnten vor ihnen dort sein.«
»Werden Sie
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