Der Spitzenkandidat - Roman
Polizeibeamtin aufgeregt ins Wort. „Das sind ungeheuerliche Anschuldigungen. Haben Sie Beweise?“
„Aha, keine Beweise, also nichts als Spekulationen. Mein Mann hatte seine Fehler, er hat mich geschlagen. Das tun viele Männer in diesem Land, lassen ihren Frust an ihren Ehefrauen aus. Aber solche haarsträubenden Verdächtigungen muss ich mir nicht anhören. Verlassen Sie sofort mein Haus.“
Vor die Tür gesetzt, war sich Verena sicher, auf der richtigen Fährte zu sein. Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, dass der angeblich rein private Brief hochbrisante Informationen enthielt, hatte sie den soeben bekommen.
51
Der Mann an Tisch vier aß heute wenig. Josephine, die im Stadtparkhotel im Zooviertel der Landeshauptstadt ihr Betriebspraktikum absolvierte, musste mit dem gefüllten Rührei-Teller wieder abziehen. Dabei hatte man ihr eingeschärft, die Vorlieben der Gäste herauszufinden und sie am nächsten Morgen zu überraschen. Die Vier brummte und sah nicht einmal auf. Sonst hatte er neben dem Rührei auch Speck und mehrere Brötchen vertilgt. Heute aß er, als wäre sein Magen verstimmt: Toast mit Honig, schwarzer Tee, ungesüßt.
„Kann ich Ihnen noch was bringen?“, fragte Josephine schüchtern. Sie sprach betont langsam, der Mann sprach nur gebrochen deutsch.
Die Vier blickte sie mürrisch an. Er brummte und schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und verließ grußlos den Frühstücksraum. Boris war unzufrieden. Seit Tagen war der Kontakt zu seinem Chef abgebrochen. Boris war ein geduldiger Mann. Wenn es sein musste, wartete er wochenlang, wenn der Auftrag es verlangte. Aber er hatte stets gewusst, woran er war. Ein schweigender Oleg, das war noch nie vorgekommen. Der letzte Kontakt war am Sonntagnachmittag gewesen. Oleg wollte in die Oper, er liebte Opern, Wagneropern ganz besonders. Montag früh wollte er sich wieder melden. Der Anruf war nie gekommen. Auch Boris erreichte den Mann nicht, für den er seit fast 20 Jahren arbeitete. Natürlich hatte das nichts Gutes zu bedeuten. Boris konnte auch mit Ungewissheit leben, aber Oleg … Boris kannte keinen professionelleren und disziplinierteren Mann. Er bewunderte seinen Chef. Dieser war gebildet, sprach fließend deutsch und englisch und war kulturbeflissen. Für die Museumsinsel in Berlin hatte er 50.000 Euro springen lassen. Einfach so. So war er, der Oleg Subkow.
Der andere Oleg war der Geschäftsmann, mit allen Wassern gewaschen, seit 17 Jahren im internationalen Waffenhandel tätig. Er kannte jeden, der in der Szene wichtig war. Er hatte 48 Staaten bereist und in den meisten gute Geschäfte gemacht. Kalaschnikows in den Kongo und nach Afghanistan, Boden-Boden-Raketen in den Irak und den Iran, Minen in den Mittleren Osten. So viele Menschen fühlten sich bedroht oder hatten das Bedürfnis, andere zu bedrohen. Allen konnte Oleg helfen, solange ein anständiger Preis gezahlt wurde. Viele der Waffen wurden von der EU und Deutschland finanziert, aus Steuermitteln über Hilfsfonds, die nur selten zweckgerichtet verwendet und noch seltener kontrolliert wurden. Oleg machte sich darüber lustig, wenn er sich über die Deutschen ausließ. Er hatte vier Jahre in der DDR verbracht, dort die Sprache, die Menschen und die Kultur kennengelernt.
„In diesem Paradies der Freizügigkeit kann man sich ungehindert bewegen wie in keinem anderen Land der Welt. Solange man keinen Sprengstoffgürtel über der Jacke trägt, stellt niemand Fragen. In jedem anderen Land muss man an der Hotelrezeption den Ausweis vorzeigen, in Deutschland nicht. Von den Zollbehörden will ich erst gar nicht reden.“
Und dann fügte Oleg meistens hinzu: „Die Deutschen sind ein sympathisches Volk: vertrauensselig, freundlich und sehr naiv. So naiv, dass sie nicht einmal merken, wie ihnen ihr aufgeräumtes und sauberes Land weggenommen wird. Hier fühlen sich alle wohl: die italienische Mafia, die Russenmafia und die Kollegen aus Bulgarien und Albanien. Islamisten schöpfen hier neue Kräfte, Familienclans aus Ostanatolien verteilen Drogen, Albaner und Bulgaren handeln mit Menschen, und die Politik schaut zu, debattiert gerne in Talkshows darüber, was sich ändern müsste. Aber es ändert sich nichts, seit 20 Jahren nicht. Deutschland, lieber Boris, Deutschland ist ein einziger großer Marktplatz und an den Marktständen herrscht reger Betrieb.“
Oleg verdiente gut. Auf seinen Konten lagen 5 Millionen Schweizer Franken und Aktien im Wert von 14 Millionen, Tendenz steil
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