Der Spitzenkandidat - Roman
auseinandergelebt. Axel, sein Freund, wäre traurig. Sie kannten sich seit der Schulzeit. Seine Skatbrüder wären vermutlich auch betrübt. Und einige Kollegen bei der Tawes AG würden ihn vermissen, er kam auf drei Namen. Drei Namen nach über 30 Jahren Betriebszugehörigkeit. Und trotzdem: Eigentlich war er glücklich dran, er fürchtete sich nicht vor der Operation. Sollte es vorbei sein, wäre es in Ordnung. Er war 59 und hatte ein gutes Leben gehabt. Seinen Beruf hatte er geliebt, seine Frau auch, das Gute überwog bei Weitem. Wenn er abtreten sollte, wäre es keine Katastrophe.
Und wenn es anders käme und sein Herz würde weiterschlagen – was dann? Dann würde er darum kämpfen, wieder gesund zu werden und ein Jahr lang die Welt bereisen. Hansen, sein intriganter Stellvertreter und der russische Investor, sie konnten ihm alle den Buckel herunterrutschen. Und was den Mordfall anging, der interessierte ihn nicht die Bohne. Außerdem hatte er ein komisches Gefühl im Bauch. Das sagte ihm, dass der Mord unter der Rubrik unaufgeklärte Fälle abgelegt werden würde. Die Sache stank gewaltig, mehr als Gülle im Oldenburger Land. Er war sich sicher: Da hatte jemand seine Finger im Spiel. Vertuschung, nicht Aufklärung war angesagt. Ihm konnte es egal sein, er hatte mit allem abgeschlossen.
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Schon wieder das Telefon, zum elften oder zwölften Mal. Sonja Schreiber erschrak auch diesmal, aber die Unruhe ließ nach. Sie war nicht mehr daran gewöhnt, Anrufe zu erhalten. Bis vor fünf Monaten hatte Uwe angerufen, zuletzt immer seltener, aber doch regelmäßig hatte er das Telefon zum Klingeln gebracht. Genau wie die Kollegin aus der Anwaltskanzlei Schrader und Partner, mit der sie sich damals gut verstanden hatte und sich gelegentlich im GOP oder Theater am Küchengarten verabredet hatte. Sie waren beide Kabarettfreaks gewesen. Nach ihrem Rausschmiss war der Kontakt abgerissen, ihr Interesse am Kabarett oder Theater schon davor. Im Grunde genommen gab es nichts, was sie noch interessierte. Außer Anna, aber die hatte man ihr auch genommen.
Anfang dreißig und allein. Niemand, der auf ihre Gesellschaft Wert legte, niemand, der sich um sie kümmerte. Vielleicht war alles von Anfang an vorbestimmt gewesen. Es gab Menschen, die hatten Glück und es gab Menschen, die wurden vom Pech verfolgt. Sie gehörte zu Letzteren. Das hatte sie schon als Kleinkind begriffen. Ihre Mutter hatte es oft genug gesagt. „Das Glück macht um uns einen großen Bogen“ oder „Wir sind vom Pech verfolgt“ waren ihre häufigsten Sätze gewesen. Der Vater war anders gewesen, aber dann hatte er seinen Job verloren, und auch er war resigniert. Dann, als Sonja gerade 19 geworden war, ein schwerer Autounfall. Ihre Mutter war auf der Stelle tot, ihr Vater hatte noch einige Stunden gelebt, bevor auch er gestorben war. Egon aus der Nachbarschaft hatte damals zu ihr gestanden, sie getröstet und aufgerichtet, ihr alle Belastungen abgenommen. Ein Jahr später hatten sie geheiratet. Von ihrer Seite war es keine Liebe gewesen. Eher Bequemlichkeit, vielleicht auch Dankbarkeit. Egon gab ihrem Leben Halt und Beständigkeit. Er war zehn Jahre älter als sie, ernst, gewissenhaft, pflichtbewusst und zuverlässig. Eigenschaften, die sie damals zu ihm hingezogen hatten. Später hatten sie sie gelangweilt. Sie war Anfang zwanzig und wäre gerne ausgegangen, in die Disco, auf eine Party, sie wollte neue Bekannte kennenlernen und zu sich einladen. Egon wollte davon nichts wissen. Er war ein Familienmensch, er hatte eine ungewöhnlich enge Beziehung zu seinen Eltern. Später waren sie zu dritt. Nachdem sie Anna zur Welt gebracht hatte, wurde auch der Sex mit ihm langweilig, eine lästige Pflichtübung, nicht mehr und nicht weniger. Seine Familie und sein Beruf als Bauingenieur füllten ihn aus. Mehr verlangte er nicht vom Leben und Sonja sollte es genauso halten. Ihre einzige Freundin war mit Anfang zwanzig nach Nürnberg gezogen. Der Kontakt war im Lauf der Jahre eingeschlafen, neue Freundinnen lernte sie nicht kennen. Als sie einmal eine Kollegin zum Kaffeeklatsch einlud und Egon an diesem Nachmittag früher nach Hause gekommen war, war er wütend geworden und hatte ihr Vertrauensmissbrauch vorgeworfen. Danach hatte sie nie wieder jemanden nach Hause eingeladen und sich damit abgefunden, dass Egon keinen Freundeskreis wollte.
Kein Wunder, dass sie mit fliegenden Fahnen zu Uwe übergelaufen war, als er Interesse an ihr gezeigt hatte. Jeder halbwegs
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