Der Spitzenkandidat - Roman
leicht war ein Unfall möglich, ein Schicksalsschlag, Bettruhe, Schonung, und bei der Wahl würde Alfred Bitter antreten. Kein Mann, der das Herz eines Betriebsrates erwärmte, aber ohne Ambitionen, denen er Tausende Schicksale opfern wollte. Die Fusion wäre fürs Erste gestorben. Es war die Kapitalseite, die nach dem Motto „Das Ziel heiligt die Mittel“ lebte und handelte. Höchste Zeit, sich die Wertvorstellungen der Kapitalseite zu eigen zu machen. Hübner rettete sich in den Fahrstuhl. Einen schrecklichen Moment wusste er nicht, welchen Knopf er drücken musste, um in den zweiten Stock zu gelangen.
8
Schweiß lief ihr aus den Achselhöhlen Richtung Rippen, Nacken, Kopfhaut, Stirn, alles war feucht. Sie hatte unter einem Baum geparkt und ein Fenster geöffnet. Es nutzte nichts, niemand entkam dieser Schwüle. Sie starrte aus der schmutzigen Fensterscheibe ihres alten Polos auf den Wülferoder Weg, in den in diesem Moment Sonja Schreibers Ex-Schwiegermutter einbog. Wie immer auf die Minute pünktlich. Sonja mochte sie, nicht nur wegen dieser Eigenschaft. Viel mehr für das, was nun geschah. Die Eingangstür der Kindertagesstätte öffnete sich, Kinder rannten heraus, die Nachzügler bewegten sich gemächlich, zu zweit, zu dritt. Der Raum vor der Tür war gesäumt mit Müttern, Großmüttern, sogar ein Mann hatte sich eingefunden. Anna rannte zu ihrer Omi, die beugte sich herunter und schloss das Kind in ihre Arme. Der Anblick tat weh wie jedes Mal, aber Anna wurde geliebt, nur das war wichtig.
Ohne den Blick von den beiden abzuwenden, tastete Sonja auf dem Beifahrersitz nach der Handtasche. Die Flasche war angenehm kühl. Um den Verschluss zu öffnen, musste sie nicht hinschauen. Sie nahm einen kräftigen Schluck, wie immer. Der dritte Flachmann des Tages und fast leer. Die leeren Flaschen entsorgte sie einmal in der Woche, immer freitags, im Altglascontainer. So viel Anstand musste sein. Tagsüber Flachmänner, abends eine Flasche Rotwein. Der Alkohol entspannte sie, er sättigte auch. Was sie für Alkohol ausgab, sparte sie beim Essen ein. Sie musste aufs Geld achten. An Omis Arm schlenderte Anna zur Haltestelle der Straßenbahn. Sie kamen an einem Wahlplakat vorbei, beachteten es nicht. Gut so. Uwe Stein lächelte vertrauenerweckend. „Du mieses Schwein“, murmelte sie. Vor drei Jahren hatten diese Augen sie zum ersten Mal angelächelt.
D EZEMBER 2008
„Und jetzt trinken wir noch einen Glühwein“, sagte Rechtsanwalt Schrader unternehmungslustig und rieb sich die Hände. Die drei Kolleginnen blickten sich betreten an. Im Lauf des milden Tages war die Temperatur auf 12 Grad gestiegen – Vorfrühling im Dezember. Der Besuch des Weihnachtsmarktes war ein Pflichttermin in der Kanzlei Schrader und Partner. Bürogemeinschaften aus Wirtschaft und Verwaltung pilgerten alljährlich in die Altstadt, wo um die Marktkirche herum der Weihnachtsmarkt mit seinen Holzbuden die Besucher zum Kaufen, Essen und Trinken einlud.
Das erste Glas war gewöhnungsbedürftig, danach wurde es leichter. An den Stehtischen plauderten sie lebhaft, als ein Mann auf die Gruppe zukam. Sonjas erster Eindruck: sieht unglaublich gut aus. Er steuerte direkt auf sie zu, um sich an den Mann neben ihr zu wenden.
„Hallo, Herr Schrader, heute mal nicht vor Gericht.“
„Ach Sie, Kollege Stein. Hoffe, Sie haben die Niederlage verkraftet.“
Sie frotzelten über einen Rechtsstreit, bei dem sie aufeinander getroffen waren. Das übliche Armdrücken unter juristischen Kollegen. Immer wenn ein Prozess gewonnen wurde, gab es einen Verlierer.
An seine Mitarbeiterinnen gerichtet, erklärte Schrader: „Rechtsanwalt Stein von Hackmann und Partner. Sehr renommiert. Trotzdem hat der Kollege letzte Woche vor dem Landgericht den Kürzeren gezogen. Daraufhin wurde halbmast geflaggt.“
Stein erwiderte: „Vor Gericht und auf hoher See … das alte Lied.“
Die Einladung zu einem Glühwein nahm er an. Das war der Anfang. Und das Ende. Von diesem Tag an war sie ihm verfallen. Bei ihrem Treffen zwei Tage später landeten sie in einer Absteige im Steintorviertel. Nachdem sie sich geliebt hatten, erzählte Stein ihr, dass er verheiratet sei und eine kleine Tochter habe. Seine Ehe bestehe nur noch auf dem Papier, er müsse aber Rücksicht auf seine Position und politischen Ambitionen nehmen. Daher: heimliche Treffen. Ihr war das recht. Auch sie musste Rücksicht nehmen. Ihre Ehe bestand nicht nur auf dem Papier. Das änderte sich schnell.
Sie traf Uwe
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