Der Spitzenkandidat - Roman
ihn und hatte kein Verständnis. Ihre Zeitrechnung reichte bis zum Parteitag, danach würde alles besser werden. Danach hätte er wieder mehr Zeit für sie und würde sich ganz zu ihr bekennen. Sie war jetzt viel allein und gewöhnte sich an, Wein zu trinken, nicht viel. Ein oder zwei Gläser, im Lauf der Zeit wurden es mehr.
Der Parteitag endete mit seiner Nominierung zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl. Sie traf ihren Geliebten in den Abendnachrichten. Ein strahlender Held, die Herzen flogen ihm zu, ihres gehörte ihm ohnehin. Zwei Tage später erschien er bei ihr. Sie fiel ihm um den Hals, wollte ihn küssen, er schob sie zur Seite. Im Wohnzimmer, klein und unpersönlich eingerichtet – es war ja nur für den Übergang –, kam er zur Sache. Er setzte sich nicht einmal hin, Sonja fühlte Kälte aufsteigen.
„Es geht um uns, Sonja. Wir müssen unsere Liaison beenden. Ich bin jetzt Kandidat für den Ministerpräsidenten. Ich kann mir keine Affäre leisten.“
Wieso sprach er von Liaison? Er hatte ihr die Ehe versprochen. Sie waren fast zwei Jahre zusammen. Sie hatte seinetwegen ihre Familie verlassen.
„Du wirst das bestimmt verstehen. In der Partei gibt es viele Konservative. Die Ehe muss ein Leben halten mit allem Pipapo. Sie hätten kein Verständnis für eine Scheidung und ich sitze noch nicht fest im Sattel.“
Ihre Stimme zitterte: „Du bist doch nominiert. Sie können dir nichts mehr anhaben.“
„Albi sägt an meinem Stuhl, er will den Posten für sich. Darauf hat er sein Leben lang hingearbeitet. Er wartet auf einen Fehler von mir und es gibt einige, die nur halbherzig hinter mir stehen.“
„Was hat das mit uns zu tun? Warum können wir uns nicht mehr treffen? Ich verrate keinem etwas. Wir machen genauso weiter wie bisher“, bettelte sie. Sie schämte sich dafür und doch konnte sie nicht anders.
„Die Dinge haben sich geändert. Im Oktober ist die Landtagswahl und ich bin der Spitzenkandidat der Regierungspartei. Ab jetzt stehe ich unter Beobachtung, von Feinden, Freunden und den Medien. Ich kann mir keine heimlichen Besuche mehr leisten. Ich bin sicher, du verstehst das.“
Sie hätte gern geweint, aber der Schock saß zu tief. Sie wollte laut aufschreien, ihre Kehle war zugeschnürt.
„Wir hatten eine wunderschöne Beziehung“, fuhr er fort. „Ich habe das Zusammensein mit dir genossen, aber jetzt ist es vorbei.“
Schon in der Tür stehend, sagte er: „Mit niemandem reden, wie bisher. Das gilt auch jetzt, jetzt erst recht. Lass dich nicht hinreißen, Sonja! Wenn du auf den Rachefeldzug gehst, werde ich dafür sorgen, dass du als Lügnerin und Erpresserin dastehst. Das ist keine Drohung, ich will dir nur klarmachen, dass du eine Verantwortung hast.“
Sie dachte: Das ist nicht Uwe Stein. Nicht der Mann, den ich liebe und für den ich meine Familie verlassen habe. Das ist einer, der genauso aussieht. Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Aber wir lieben uns, wir wollten heiraten und eine Familie gründen.“
In seinem Gesicht las sie Verachtung. „Ich bin verheiratet, hast du das vergessen? Wir hatten ein Verhältnis, es war schön, solange es ging. Jetzt ist es vorbei. Das passiert tausend Menschen jeden Tag. Liebe kommt, Liebe geht. Trink ein Glas Wein, das wird schon wieder. Du bist doch eine selbstbewusste Frau, oder sollte ich mich in dir getäuscht haben.“
Er drehte sich um und verschwand aus ihrer Wohnung. Aber nicht aus ihrem Leben und vor allem nicht aus ihren Gedanken. Eine selbstbewusste Frau, hatte er gesagt. Ja, das war sie, früher einmal. Der Schwarm der Jungs auf ihrer Schule, später von den Anwälten ihrer Kanzlei hofiert und von Egon geliebt. Übrig geblieben war eine abgelegte Geliebte.
An diesem Abend trank sie mehr als sonst. Am nächsten Morgen meldete sie sich krank, ihren Schmerz betäubte sie mit Likör. Sie gewöhnte sich an, auch vormittags zu trinken, im Büro heimlich, aber regelmäßig. Sie vernachlässigte ihre Ernährung und ihr Äußeres. Die einzige Freude, die ihr geblieben war, war ihre Tochter. Doch im letzten Monat hatte sie das Besuchsrecht für Anna verloren. Nach einem gemeinsamen Besuch auf dem Schützenfest hatte sie sie erst gegen Mitternacht zurückgebracht. Die vielen Weinstände auf dem Festplatz hatten sie wie ein Magnet angezogen. Anna wurde mit gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und Geld fürs Riesenrad ruhiggestellt, bis sie anfing zu weinen, weil sie müde war und nach Hause wollte. Egon wartete an der Haustür auf
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