Der Spitzenkandidat - Roman
bei uns das Sagen hat. Ich weiß, wie der Hase läuft.“
„Freut mich zu hören. Dann hätten wir es ja soweit.“
„Sehe ich auch so. Wenn Sie mir noch kurz mitteilen, wo die tausend Mitarbeiter bleiben sollen, die bei einer Fusion draufgehen werden? Tausend im ersten Schritt. Wo sehen Sie in unserer Region tausend Arbeitsplätze? Oder sagen wir fünfzig?“
Die Brille wurde geputzt, es sah aus, als würde Hübner gegen sie kämpfen, als er knurrte: „Viele unserer Leute haben Eigentum gekauft: eine Wohnung oder ein Häuschen im Umland. Wird doch von der Politik seit Jahren gepredigt. ‚Kauft Immobilien, schafft Werte fürs Alter.‘ Wird nicht leicht, mit Hartz IV die Raten zu bezahlen. Und wenn nur die Hälfte ihre Hütten verkauft, gehen die Preise in den Keller. Sie stehen vor dem Nichts oder habe ich etwas übersehen?“
„Sie sehen zu schwarz, Hübner. Immerhin leben die Menschen in unserem Land in Frieden und Freiheit. Selbst mit Hartz IV geht es ihnen besser als den Menschen in Asien und Afrika. Wir jammern auf hohem Niveau. Zugegeben, der Wohlstand ist auf Pump. Irgendwann kommt der große Crash und das Geld bekommt dann jede Woche hinten eine neue Null. Dann fangen wir alle wieder von vorn an, Sie und ich und alle Kollegen der Tawes AG. Damit haben wir Deutschen ja Erfahrung.“
„Das kann ich meinen Leuten nicht erzählen. So sehr es sie freuen wird, dass die Manager den Bach runtergehen, vorher sind Millionen andere dran.“
Hansen antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Auch er machte sich Sorgen, seine Position war bei einer Fusion gefährdet. Allerdings winkte ihm eine Abfindung in siebenstelliger Höhe. Sie würde umso großzügiger ausfallen, je besser es ihm gelang, Ärger vom Aufsichtsrat und den Gesellschaftern fernzuhalten.
Hübner setzte die Brille auf und blickte über Hannover. Hansen dachte: Der größte Witz ist, dass ihm die hässliche Brille gar nicht steht.
Hübner sagte: „Ich werde eine Betriebsversammlung einberufen und unsere Leute über die hinterhältigen Absprachen Steins mit den Süddeutschen informieren. Und die Presse natürlich auch.“
„Denken Sie nach, Hübner. Sie haben keinen Beweis. Ich stehe als Zeuge nicht zur Verfügung, ich weiß gar nicht, wovon Sie reden. Dass ich Sie so früh informiert habe, ist in unserer langen und gedeihlichen Zusammenarbeit begründet. Ich … ich habe nicht vergessen, wie Sie zu mir gestanden haben, als mein Stuhl wackelte.“
Hübner unterbrach erneut seinen hektischen Gang und blickte ihn an, als könne er sich nicht erinnern.
„Betrachten Sie es als kleines Dankeschön“, fuhr Hansen fort. „Sie haben jetzt die Chance, sich rechtzeitig umzuorientieren. Je weniger Ärger Sie machen, desto mehr steigen Ihre Aussichten, auch in Zukunft beschäftigt zu werden.“
Hansen stand ebenfalls auf. Das konnte man von Hübner lernen: Wenn man im Verlauf eines Streites weniger als fünf Kilometer zurücklegte, war es die Sache nicht wert.
„Bringen Sie Ihre Schäfchen ins Trockene, Hübner. Die Zeiten sind hart, jeder ist sich selbst der Nächste.“
„Zu einem Verräter machen Sie mich nicht. Ich werde mir das Ganze durch den Kopf gehen lassen. Wir sehen uns morgen früh auf der Konferenz der europäischen Betriebsräte. Werden Sie nach Ihrem Grußwort noch bleiben?“
Hansen schüttelte den Kopf.
„Ich muss nach Brüssel. Ich verlasse mich auf Ihre Verschwiegenheit.“
Bei den Fahrstühlen wurde Hübner schwarz vor Augen. Nur einen Moment, es war gleich vorüber, doch als er sich wieder gefangen hatte, lehnte er an der Wand neben den Fahrstuhltüren und wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Das Herz schlug flach und schnell, nichts schmerzte, aber die Brust war eng, und er bekam zu wenig Luft, obwohl er schnappend atmete. Das verdammte Wetter, alle jammerten und schwitzten schon, wenn sie morgens zur Arbeit erschienen. Der Fahrstuhl klingelte und spuckte Menschen aus. Hübner floh zum Fenster, in seiner Not hielt er sich das Handy ans Ohr. Bloß keine Schwäche zeigen. Gerade jetzt nicht, er wurde gebraucht. Wenn nicht er, wer sonst sollte denn die widerwärtigen Pläne des Politikerschnösels und des gottverdammten Playboygesellschafters zu Fall bringen? Beim Gedanken an Uwe Stein wurde ihm noch heißer. Ein Kaltblüter wie er schwitzte vermutlich nicht, absolvierte seine kräftezehrenden Veranstaltungen, als könnten sie ihm nichts anhaben. Aber auch Uwe Stein war nur ein Mensch, war verletzbar, wie
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