Der Spitzenkandidat - Roman
nichtssagende Visagen in diesem Land. Warum erschlägt die niemand? Ich fand Stein gut. Er wirkte so unverbraucht und authentisch. Alles passte bei ihm, sein legerer Stil, sein Auftreten und sein Aussehen. Er ragte aus der mittelmäßigen Politikerriege heraus. Meine Stimme hatte er sicher. Das will was heißen, denn mit seiner Partei kannst du mich jagen.“
Während Stollmann ihr Handschuhfach nach Süßigkeiten durchsuchte, fuhr er fort, das Hohelied des Mordopfers zu singen.
„Du übertreibst“, entgegnete seine Begleiterin. „Du hackst doch sonst bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf den Politikern herum. Wäre Stein Ministerpräsident geworden, hättest du vier Wochen später angefangen, auch über ihn zu meckern. Solange jemand ein Talent ist, kann man ihn leicht mögen. Wenn er Teil des Systems geworden ist, blättert der Lack schnell ab.“
Sie hatte an der Politik, wie sie sich in Bund und Land darstellte, viel zu kritisieren. Aber bei ihr war es, anders als bei Stollmann, kein Generalverriss. In Deutschland hakte es an vielen Stellen, warum sollte ausgerechnet die Politik über allen Wassern schweben?
„Und du musst gar nicht so tun, als ob der Mann alle hingerissen hat. Er hat nicht nur Blumen gestreut. In seiner eigenen Partei hatte er nicht nur Freunde. Ich habe neulich gelesen, dass der Parteivorsitzende, wie heißt der noch gleich …?“
„Bitter, Alfred Bitter. Einer der ewig Gestrigen.“
„Dieser Bitter lag mit Stein im Streit. Ist eigentlich naheliegend. Wer so rasant nach oben steigt, tritt einigen auf den Schlips, auch den eigenen Parteifreunden. Vielleicht ist das ja überhaupt das Tatmotiv. Vielleicht müssen wir in seiner Partei nach Motiv und Täter suchen“, sagte sie und dachte: lieber Gott, bloß das nicht.
Eines hatte sie erreicht: Stollmann war sachlich geworden. „Die eigene Partei? Halte ich für unwahrscheinlich. In diesen Kreisen schlagen sie nicht mit harten Gegenständen zu, die haben andere Methoden. Intrigen, üble Nachrede, Gerüchte in Umlauf setzen, unliebsame Leute wegloben oder auch wegmobben: in die EU und ihre Riesenbürokratie. Oder als gut dotierte Manager in einen Staatsbetrieb. Mit Netz und doppeltem Boden. Daran sollte sich die Polizei ein Beispiel nehmen.“
„Ach Gott, Stolli sehnt sich nach einem Versorgungsposten.“
„Manchmal schon. Aber wenn ich dann wieder nüchtern bin, schnalle ich den Colt um und sattle meinen treuen Rappen.“
Verena fragte: „Was wollte Stein wohl so spät in der Eilenriede? Nein, diese naheliegendste Möglichkeit lassen wir jetzt beiseite.“
„Nach allem, was man weiß, war er irgendwo auch ein Mann.“
„Und wenn er nichts weiter wollte, als frische Luft schnappen? Wir leiden doch alle unter der Schwüle. Der Wahlkampf läuft auf vollen Touren, ständig muss Stein in überhitzten Räumen predigen. Die Luft ist verbraucht, und natürlich schläft er zu wenig und steht ständig unter Strom.“
„Denkbar“, räumte Stollmann ein. „Der Wolfsgraben liegt nur ein paar Meter von einem Wohngebiet entfernt. Er hat dort jemanden besucht und sich auf zehn Minuten Ruhe in halbwegs frischer Luft gefreut, Sauerstoff tanken.“
Überall standen Polizeifahrzeuge und zivile Wagen, verwegen geparkte Pkws mit dem „Ich darf parken wie die Wildsau“-Schild von Journalisten. Nur die Absperrung hatte sie aufgehalten, wer zuletzt gekommen war, parkte auf dem Grünstreifen, der den Übergang zur Eilenriede markierte.
„Habe ich dir schon gesagt, dass ich unsere Freunde von den Medien manchmal nur noch ekelhaft finde?“
Verena ging auf das Spiel ein: „Sag bloß! Wo sie doch in der Mediengesellschaft eine wichtige Aufgabe erfüllen.“
„Das tun Hyänen auch. Allerdings in der Steppe.“
In Verenas BMW Z3 sitzend, blickten sie den Journalisten entgegen, die auf den Wagen zueilten und ihn von allen Seiten einkesselten. Der Wagen war flach, die Beamten mussten steil nach oben schauen, um die Medienmeute zu fixieren.
„Fütterungszeit“, murmelte Stollmann und wuchtete sich ins Freie.
„Frau Hauser, warum wird so ein Geheimnis um den Toten gemacht? Glauben Sie im Ernst, dass wir keine Mittel und Wege finden, uns kundig zu machen? Warum sagt uns keiner, wer der Tote ist?“
„Ich bitte um Verständnis, dass ich zurzeit keinen Kommentar abgeben kann. Das LKA wird gegen elf Uhr eine Pressekonferenz geben. Bis dahin müssen Sie und Ihre Kollegen sich noch gedulden.“
Verena sah, dass Stollmann von
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