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Der Spitzenkandidat - Roman

Der Spitzenkandidat - Roman

Titel: Der Spitzenkandidat - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien>
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verlangte nach T-Shirt und langer Hose, Stollmann war auf eine kurze Hose umgestiegen und übersah Hirschmanns indignierte Blicke. Vielleicht galten diese auch der Vorderseite von Stollmanns Shirt, wo Schweiß- und Speiseflecken bizarre Muster bildeten. Hirschmann hatte nicht einmal seine Krawatte abgelegt, er schwitzte auch nicht. Sollte es sich doch um ein Reptil ohne Schweißdrüsen handeln, wie Stollmann nicht müde wurde zu behaupten?
    Zu Beginn hatte Hirschmann über den Ansturm der Medien berichtet. Deutschlandweit war das Verbrechen der Aufmacher, auch ausländische Zeitungsredaktionen und Fernsehstationen standen auf der Matte. „Ich habe in meinem Leben noch nie in so kurzer Zeit so viel englisch gesprochen“, sagte Hirschmann.
    „Hoffentlich haben Ihre Gesprächspartner gemerkt, dass es sich um Englisch handelt“, bemerkte Stollmann und handelte sich einen strafenden Blick ein. „Sorry“, murmelte er. „Soll nicht wieder vorkommen.“ Jeder im Raum wusste, dass Stollmanns Entschuldigung für die Katz war. Die gegenseitige Abneigung der beiden Beamten bot häufigen Gesprächsstoff.
    Hirschmann nahm den Faden wieder auf. Hannover, die Stadt, die unter dem Ruf der langweiligen Provinzhauptstadt litt, lag plötzlich auf dem Präsentierteller.
    „Davon werden wir uns nicht verrückt machen lassen“, behauptete er. „Wir wollen nicht die Schnellsten sein, sondern die Gründlichsten. Wir können uns auch gar keinen Fehler leisten. Wir wissen alle, dass nichts so sicher Fehler erzeugt wie Hektik. Um Gerüchten vorzubeugen, möchte ich betonen, dass es bislang keine Einflussnahme der Politik gegeben hat.“
    „Wäre aber doch normal“, behauptete Stollmann. „Erstens, weil die Häuptlinge sich für ihr Leben gern einmischen. Und zweitens, weil es sich um ihren eigenen Mann handelt.“
    „Wir können ja nun keine neue Regierung einsetzen, nur damit es keine parteipolitischen Überschneidungen gibt“, entgegnete Hirschmann.
    „Nein, das können wir wohl nicht“, gab Stollmann zu und verbarg nicht, dass ihm die bloße Möglichkeit behagte.
    Verena Hauser eröffnete den sachlichen Teil mit einem Bericht über den Stand der Ermittlungen. Die Politik reagierte mit pausenlosen Sitzungen auf Steins Ermordung. Per Telefon war kein Verantwortlicher zu erreichen gewesen. Das Vorzimmer des Parteivorsitzenden war entweder nicht besetzt oder es ging keiner ans Telefon. Die Sekretärin von Uwe Stein lag mit einem Magen-Darm-Virus im Bett, wie eine aufgeregte Praktikantin zu vermelden wusste. Als Verena sie zu Hause angerufen hatte, hatte sie sich bereit erklärt, ins Büro zu fahren, um der Polizei alle gewünschten Unterlagen zu übergeben und hatte dann aus dem Gedächtnis Steins Terminkalender der letzten zehn Tage referiert.
    Die örtliche Polizeistation in Kleefeld und das Dezernat für Jugendkriminalität waren dabei, die üblichen Verdächtigen abzuklopfen.
    Stollmann hatte Steins Wohnhaus besucht, die Witwe jedoch nicht zu Hause angetroffen. Das Haus war dabei, zum Wallfahrtsort zu werden. Kerzen, Blumen, Stofftiere, Fotos des Ermordeten in Plastikfolie.
    „Manchmal glaube ich, die Leute beziehen ihre Einfälle für tiefe emotionale Situationen nur noch aus dem Fernsehen“, sagte Stollmann. „Da sehen die Altäre, die Nachbarn errichten, genauso aus.“
    Erste Rundfragen bei Nachbarn hatten das Bild eines introvertierten, distanziert auftretenden Stein erbracht. Auch wenn man wohl nicht alles zum Nennwert nehmen konnte, was am Tag nach so einem scheußlichen Verbrechen geäußert wurde, war doch klar, dass Stein ein viel beschäftigter Mann war, der früh das Haus verließ und spät zurückkehrte, manchmal erst in der Nacht. Steins Kind fanden alle allerliebst, die Mutter gab manchen Rätsel auf. Einerseits war sie stets in Eile, wich jedem Klönschnack auf dem Bürgersteig und über dem Gartenzaun aus. Andererseits lag sie manchmal stundenlang auf der Terrasse oder ging ums Haus herum, einmal, zweimal, fünfmal, wobei sie nachdenklich wirkte. Und abwesend. Die Beamten hatten den Nachbarn die Worte „unglücklich, möglicherweise depressiv“ angeboten, alle waren darauf eingestiegen, wenngleich sie versuchten, es zu relativieren und es keineswegs als Kritik verstanden wissen wollten.
    Die Nachbarn wussten Frau Stein nicht einzuordnen, richtig warm war man mit ihr nicht geworden. Der Kontakt erschöpfte sich in zufälligen Begegnungen vor dem Haus. Gegenseitige Einladungen wurden nicht ausgesprochen,

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