Der Spitzenkandidat - Roman
befunden.
Sie war gespannt auf die Witwe, über die sich nur ein einziges Pressefoto in den Archiven gefunden hatte. Merkwürdig für die Frau eines Spitzenpolitikers.
Haus und Vorgarten waren gepflegt. Der grüne Holzzaun hatte kürzlich einen frischen Anstrich erhalten, vom Zaun führte ein gepflasterter Weg zum Haus, die Ränder waren bepflanzt mit Fleißigen Lieschen in bunten Farben. Die blaue Schaukel und ein auf dem Rasen liegendes Kinderrad zeugten von heiler Kleinfamilie.
Isabel Stein musste hinter der Tür gestanden haben, so schnell wurde geöffnet. Sie war Mitte dreißig oder etwas älter. Stollmann hatte sich geirrt: Potthässlich war sie nicht, aber angespannt und das Gesicht verhärmt, unter den Augen hingen Schatten. Das musste nicht an den letzten Stunden liegen, das waren Schatten, die von länger anhaltendem Kummer zeugten. Isabel Stein trug eine schmal geschnittene Hose und einen schwarzen Pullover. Sie war eine dünne Frau, schmal bis zu der Grenze, ab der es beginnt, nicht mehr gesund auszusehen. Der langärmelige Pullover war bei der Hitze unangemessen.
Die Ermittlerin stellte sich vor, Frau Stein reichte ihr zur Begrüßung die linke Hand. Angeblich eine Zerrung des rechten Armes als Folge eines Sturzes. „Beim Saubermachen“, sagte die Witwe als nachgeschobene Begründung.
Durch einen hellen Vorraum betraten sie das Wohnzimmer. Schwere dunkelrote Vorhänge hielten die Hitze draußen. Die Einrichtung bestand aus einer cremefarbenen, karierten Couchgarnitur, einer cremefarbenen Schrankwand, einem farbenfrohen Teppich sowie einem Esstisch für zehn Personen. Auf einer Seite lagen Bücherstapel.
Auf dem Glastisch, den sie ansteuerten, standen eine Flasche Mineralwasser und Gläser. Ohne zu fragen, schenkte die Witwe mit links ein Glas ein und reichte es der Besucherin. Sie setzte sich in den Sessel und lehnte sich zurück, als wollte sie so viel Abstand wie möglich schaffen.
Verena sprach ihr Beileid aus, die Witwe zeigte keine Reaktion. Verena trank einen Schluck Wasser, am liebsten hätte sie das kühle Glas gegen Wangen und Stirn gedrückt. Im Raum wurde es still, Verena blickte sich um, sie hatte es nicht eilig. Nur Amateure haben es eilig.
Dann begann sie. Sie sprach behutsam, vermied harte Formulierungen, bis die Witwe sagte: „Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich muss mich daran gewöhnen.“ Aber erst als sie darauf bestand, alle Einzelheiten zu hören, verwandelte sich Verena in eine Polizistin zurück.
Die letzten Momente im Leben von Uwe Stein brachte sie betont sachlich hinter sich. Die Arme der Witwe lagen auf den Lehnen, die Finger waren angespannt. Immerhin kein Taschentuch. Sie weinte nicht und fürchtete wohl auch nicht, damit zu beginnen.
„Zwei Fragen konnten wir bisher nicht zufriedenstellend klären, ich bitte Sie um Unterstützung. Wissen Sie, mit wem Ihr Mann gestern im Schweizerhof verabredet war? Wissen Sie, warum er danach in der Eilenriede war? Ob es berufliche oder private Gründe gab?“
Die Hände der Witwe lagen jetzt auf ihrem Schoß. Ihre Nägel waren rissig und ungepflegt. Entweder gärtnerte sie oder sie kaute Nägel.
„Ich habe keine Ahnung, mit wem Uwe gestern zusammen war. Er hatte fast jeden Abend Termine, auch schon vor dem Wahlkampf. Seitdem der Wahlkampf läuft, ist er jeden Tag bis spät in der Nacht unterwegs.“
„Kommen hier Anrufe an? Aus der Parteizentrale oder von Kollegen, Journalisten?“
Nein, Uwe Stein hatte Beruf und Privatleben strikt getrennt gehalten. Hermetisch geradezu.
„Er hat das getan, weil er uns schützen wollte“, beeilte sich die Witwe zu sagen. „Er wollte nicht, dass ich mir Gedanken mache.“
Erwartete sie, dass Verena ihren Mann für diese Umsicht lobte? Die Witwe wusste zu berichten, dass Uwe abends häufig Politiker traf, auch Leute aus der Wirtschaft, Sponsoren, Wahlhelfer und Journalisten. Aber nur wenn keine Veranstaltung auf dem Programm stand. Im Wahlkampf war er viel im Land unterwegs. Der Flächenstaat Niedersachsen, das zweitgrößte Bundesland, war nicht günstig, um jeden Abend im eigenen Bett zu schlafen.
„Aber er hat es immer versucht“, betonte die Witwe. „Er hat gesagt, er schläft nur gut, wenn er Katharina vorher einen Kuss geben kann. Auf die Stirn.“
Irgendetwas fand Verena gespenstisch. Diese Beflissenheit. Diese Sucht, Zweifel zu zerstören, bevor sie überhaupt entstehen konnten.
Auch mit der Eilenriede kam Verena nicht weiter. Die Witwe konnte nicht weiterhelfen.
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