Der Spitzenkandidat - Roman
Verena. Sie hatte den Namen noch nie gehört.
Begeistert sprang Hirschmann auf die Frage an und quälte die schwitzende Runde mit einem peinigend detailreichen Erlebnisbericht über einen Fahrradurlaub, den er mit seiner Familie im Emsland verbracht hatte: Hümmling, Schloss Clemenswerth, Buchweizenpfannkuchen, eine Spezialität der Region und natürlich ein Besuch der Meyerwerft. Man konnte die Stichworte nicht so schnell vergessen, wie er neue nachschob.
Die Presseschau hatte keine Informationen über Steins Herkunft geliefert, man erging sich in Vermutungen über die Gründe. Von Politikern war doch bekannt, wie bereitwillig sie sich melancholischen Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitsjahre hingaben.
„Ich hätte an seiner Stelle auch nichts gesagt“, behauptete Stollmann. „Wer redet schon gerne über asoziale Verhältnisse?“
Ein Fall für Hirschmann, der keine Gelegenheit verstreichen ließ, seine Leute zu politisch korrektem Verhalten anzuhalten: „Wir wollen doch nicht übertreiben, Kollege. Arbeitslos ist nicht das Gleiche wie asozial.“
„Stimmt Kollege. Sollte es nicht sein, aber dank der Hartz-Gesetze ist es so“, knurrte Stollmann und mischte seine Unterlagen. Ein Papierhaufen, der vor ihm auf dem Tisch lag, sah nach wenigen Minuten aus, als habe er dort Monate verbracht. Sachlich und ohne persönliche Einwürfe brachte er Steins Werdegang zu Gehör. Abitur in Papenburg, Jura-Studium in Münster, mit 25 das erste Staatsexamen, danach Referendariat in Lingen, danach Wechsel in eine Anwaltskanzlei. Mit Anfang dreißig zog er in die Großstadt und kam in der Hannoveraner Kanzlei Hackmann und Partner unter, eine erste Adresse für Wirtschaftsund Steuerrecht. Er arbeitete dort zunächst als Angestellter, dann als Juniorpartner und schmiedete gleichzeitig an seiner Karriere in der Politik. Verheiratet war er mit Isabel, geborene Langner. Die gemeinsame Tochter Katharina war jetzt sieben. Frau Stein war Hausfrau.
„Was ist mit Hobbys?“, fragte Inga.
„Du meinst, ob er Briefmarken sammelte?“
„Nein, ich meine, ob er Tennis oder Golf spielte.“
Stollmann stieß einen Pfiff aus und musste passen. Keine Angaben über Hobbys. Die Homestorys schwiegen sich hierzu ebenfalls aus.
„Das ist doch das Problem bei den Karrieremännern“, sagte Hirschmann. „Es bleibt keine Zeit für Hobbys.“
„Sie meinen, wer Hobbys hat, arbeitet nicht genug?“
Er funkelte Stollmann an. Wahrscheinlich überlegte er, ob Stollmann über Hirschmanns Leidenschaft fürs Motorbootfahren informiert war.
Verena verteilte die weitere Arbeit. Besonders wichtig war, mit Anwalt Hackmann zu reden. Er würde wissen, mit welchen Fällen Stein befasst gewesen war und ob er sich mit Mandanten überworfen hatte. Sie selbst wollte mit Steins Witwe und mit seiner Mutter in Papenburg sprechen – morgens hin, nachmittags zurück.
Hirschmann, der trotz der Hitze über viel Sitzfleisch verfügte, berichtete über erste Gespräche mit der Parteizentrale der Bürgerpartei. Und mit dem Verfassungsschutz. Ihre Fühler haben die Kollegen zwar ausgestreckt, Bedrohungen gegen Stein seien dort aber nicht bekannt. Gegen den Innenminister ja, auch gegen den Ministerpräsidenten. Falls der Mord auf das Konto von Extremisten gehe, werde über kurz oder lang ein Bekennerschreiben auftauchen. Öffentliche Aufmerksamkeit sei für die das Wichtigste. Stollmann widersprach aus Prinzip. Verena beendete den Disput und referierte über die wichtigsten Fakten aus dem Gespräch mit Steins Fahrer. Am meisten interessierte sie der Termin im Schweizerhof. Auch für das Gespräch mit dem Restaurantchef fand sich ein Kollege.
Von der Besprechung wollte Verena direkt zur Witwe fahren. Hirschmann gab grünes Licht, der Parteivorsitzende hatte der Witwe bereits seinen persönlichen Kondolenzbesuch abgestattet. Isabel Stein war wieder aufgetaucht.
19
Das Eigenheim der Familie Stein lag in der Walderseestraße, einer an der Eilenriede vorbeiführenden Ausfahrtsstraße. Die linke Seite war geprägt von Anwaltskanzleien, Architekturbüros, einer Tanzschule und Werbeagenturen, die sich in die alten Villen mit Flair eingemietet hatten. Verena Hausers Ziel lag am Ende der Straße, sie parkte unter Ahornbäumen und freute sich, nachher nicht in einen aufgeheizten Wagen steigen zu müssen. Wäre es Stein gestern Abend nur um frische Luft gegangen, hätte er nichts weiter tun müssen, als die Straße zu überqueren. Dann hätte er sich im Laubwald
Weitere Kostenlose Bücher