Der Spitzenkandidat - Roman
stand auf, verließ den Raum. Verena verlor keine Zeit damit, sich über ihr eigenes Verhalten zu ärgern. Sie sah sich um, blieb dabei aber sitzen. Dieser Raum wirkte auf unheimliche Weise beherrscht. Wie ein Ausstellungsstück, zwei, drei Spielsachen der Tochter durchbrachen die zwanghafte Ordnung. Aber der Raum verriet nichts. Keine Vorlieben seiner Bewohner, keine Abneigungen. Streng genommen ließ er nicht einmal erahnen, ob er bewohnt wurde.
Die Witwe kehrte zurück, sie hatte sich frisch gemacht, man roch es. Die Besucherin vom LKA fragte nach dem Braunschweiger Parteitag, auf dem die politische Freundschaft zwischen Bitter und Stein zerbrochen war. Als beide sich um die Spitzenkandidatur beworben hatten. Es war ein Aufstand, den Uwe Stein auf dem Parteitag inszeniert hatte. Vielleicht hätte Bitter Stein noch stoppen können – aber dazu hätte er innerhalb weniger Minuten reagieren und ihn politisch eliminieren müssen. Stattdessen hatte er sich scheinbar gefügt. Aber wie es wirklich in ihm aussah, konnte kein Mensch sagen.
„Könnte es sein, dass Herr Bitter mit der Tat etwas zu tun hat?“
Die Witwe stieß ein ärgerliches Schnaufen aus. „Ich kenne Albi besser als die meisten. Für eine herzhafte Rempelei ist er immer zu haben. Für einen Mord – eine abwegige Vorstellung. Geradezu absurd.“
Verena fragte nach anderen Politikern, erkundigte sich nach Drohungen – die Witwe wusste nichts.
„Haben Sie sich nicht gewundert, dass Ihr Mann gestern nicht nach Hause kam?“
„Ich habe es doch erst heute Morgen bemerkt. Wir haben getrennte Schlafzimmer – auch so eine Folge, wenn du einen Mann hast, der oft unterwegs ist und dich nicht stören will. Er hat nicht angekündigt, dass er über Nacht wegbleibt. Aber im Wahlkampf ist nicht alles planbar. Es ist durchaus vorgekommen, dass er kurzfristig auswärts schlief. Wenn ich mich darüber jedes Mal aufgeregt oder geängstigt hätte – nein, ein Politiker braucht eine Frau, die es ihm ermöglicht, Politiker zu sein. Ich habe versucht, dies für ihn zu sein.“
Verena dachte: Du hast einiges über Politikerfloskeln gelernt.
„Und morgens, der Fahrer behauptet, er hätte mehrfach geklingelt. Weshalb haben Sie nicht aufgemacht?“
„Ich wollte nicht. Mir ging es nicht gut, ich hatte Kopfschmerzen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es der Fahrer war. Ich dachte eher an einen dummen Streich von den Jungen aus der Nachbarschaft auf dem Schulweg.“
Verenas Blick streifte die Schuhe der Witwe. Eine 39 oder 40 könnte mithilfe der passenden Socken und Schuhe in eine 42 verwandelt werden.
Frau Stein war gestern Abend allein zu Hause gewesen, natürlich mit der Tochter. Zwei Telefonanrufe mit Bekannten gab sie freiwillig an und stellte Verena frei, dies zu überprüfen.
„Ich brauche also ein Alibi? Ist es schon so weit?“
„Frau Stein, wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Also müssen wir die unfassbaren Möglichkeiten so schnell wie möglich ausschließen. Das ist kein Misstrauen, das ist Polizeiarbeit. Wie Sie vorhin schon sagten: Auch mein Job ist kein Ponyhof.“
Sie kam noch einmal auf mögliche Feinde zurück und fragte nach Zerwürfnissen in Nachbarschaft oder Verwandtschaft. Irgendetwas fand sich immer, Uwe Stein war kein Priester gewesen. Ein Politiker lebte von der Zuspitzung und manchmal würde er sich nicht ohne Kampf durchgesetzt haben.
Frau Stein schlug die Beine übereinander. Ein Hosenbein schob sich einige Zentimeter hoch und ließ nackte Haut sehen. Sie musste böse gefallen sein, die blauen Flecken waren beträchtlich. Rechter Arm, linkes Bein, ein bizarrer Sturz.
„Nein“, antwortete sie, „mir ist nichts bekannt. Einmal gab es Ärger mit Dittmers, das sind die Leute zur Rechten. Jünger, großer Bekanntenkreis, am Wochenende war bisweilen viel Lärm. Wenn die Gäste dann gingen, war es drei oder vier und sie haben sich vor Uwes Schlafzimmer lautstark unterhalten. Uwe hat es im Guten versucht und als das nicht fruchtete, hat er Dittmers einen Prozess in Aussicht gestellt. Die waren natürlich sauer, aber das ist über ein Jahr her und seitdem ist es auch ruhiger geworden. Ich meine, es ist doch normal, dass man sich mal kabbelt. Daraus kann ich doch keinen Mordverdacht … also wirklich. Sie müssen in Ihrem Beruf ja ein seltsames Menschenbild entwickeln.“
Verena ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich habe es verhältnismäßig selten mit Menschen vom Typ Mutter Teresa zu tun. Was können Sie mir
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