Der Spitzenkandidat - Roman
ein Ministerialrat. Ohne dessen Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Und er kann nebenbei seinen alten Job weiter ausüben oder einen neuen. Als Berater, Anwalt, Versicherungsmakler oder Inhaber eines Einzelhandelsgeschäftes. Als Abgeordneter hast du große Freiräume. Warum sonst werden so viele Lehrer Abgeordnete? Mehr als die Hälfte der Abgeordneten des Landtages sind Lehrer. Es gibt zwar Sitzungswochen mit Anwesenheitspflicht, aber die Freiheiten sind größer. Ein Abgeordneter kann seinen Tagesablauf selbst bestimmen – welche Termine er wahrnimmt, wo und wann und welche nicht.“
Das war einleuchtend. Bitter zündete sich erneut eine Zigarette an. Für den maroden Landeshaushalt ist er ein Goldesel, dachte Verena.
„Wer einmal im Landtag ist, klebt an seinem Stuhl. Ein Mann wie Uwe Stein war für die meisten Abgeordneten eine Lebensversicherung. Natürlich gönne ich jedem sein geregeltes Einkommen. Aber wenn das die Hauptsache wird …? Wenn Sie mich fragen, ist das mit ein Grund dafür, dass das Image des Politikers in den letzten Jahren dermaßen den Bach runtergegangen ist. Die Menschen im Land haben ein feines Gespür für die Mentalität ihrer Volksvertreter.“
Frau Stigler erschien, brachte ein Blatt Papier. Sie würdigte Verena keines Blickes.
„Sie wollen bestimmt wissen, wie Stein seinen letzten Tag verbracht hat. Ich habe Frau Stigler gebeten, seine Termine für Sie zusammenzustellen. Für meinen Geschmack nichts Auffälliges dabei. Halb acht Büroarbeit. Es wird Sie nicht wundern, dass unser Uwe ein Frühaufsteher war. Anschließend Pressefrühstück im Hotel Maritim, danach Besuch in einem Seniorenheim. Mittags war er mit einer Abgeordneten unserer Fraktion essen, danach in Burgdorf. Versammlung der Spargelbauern, eine appetitliche Lobby. Allein wegen denen sollten Wahlen nur im Mai oder Juni stattfinden. Am späten Nachmittag eine längere Besprechnung mit dem Wahlausschuss. Ich war auch dabei und kann Ihnen versichern: keine besonderen Vorkommnisse. Uwe hat gewirkt wie immer, vielleicht ein wenig angeschlagen. Obwohl, seine Kondition war gut, er hatte auch was dafür getan. Wenig Alkohol, keine Zigaretten.
Kurz vor sieben hat er sich in den Schweizerhof fahren lassen. Was er dort wollte und mit wem er verabredet war, weiß keiner von unseren Leuten. Ich habe jeden Einzelnen befragen lassen und ihm dabei lange in die Augen geblickt. Vermutlich ein privater Termin.“
Er reichte Verena die Aufstellung hinüber. Sie verriet ihm nicht, dass ein Beamter zur Stunde mit dem Restaurantchef sprach.
„Spielen Sie eigentlich Golf, Herr Bitter?“
„Sie halten mich für verdächtig? Also ehrlich, finden Sie das nicht abwegig, ausgerechnet ich soll den Spitzenkandidaten meiner Partei erschlagen haben? Ja, ich spiele Golf, recht gut sogar, Handicap 14,6. Ich habe allerdings länger nicht mehr gespielt, Wahlkampfzeit ist keine Golfzeit.“
„Wir würden gern Ihre Golfausrüstung sehen. Können wir sie bei Ihnen abholen, noch heute?“
Er seufzte und stimmte zu.
„Wo waren Sie vorgestern Abend, Herr Bitter?“
„An dem bewussten Abend? Moment, ach ja, da hatte ich einen Termin in Celle, im Fürstenhof. Wahlkampf natürlich. Hintergrundgespräch mit Sponsoren der Wirtschaft, mit Imbiss und einem winzigen Schluck. Sie werden das natürlich nachprüfen.“
„Wann genau war das Essen zu Ende?“
„Tja, wann waren wir fertig? Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Es dürfte halb zehn geworden sein, vielleicht etwas später.“
Dann könnte er um zehn in Kleefeld am Tatort gewesen sein, rechnete Verena.
„Was haben Sie danach gemacht?“
„Ich bin nach Hause gefahren. Ich war seit sieben auf den Beinen, ein Termin nach dem anderen. Im Wahlkampf spürt man jedes Lebensjahr einzeln. Am nächsten Tag klingelte der Wecker um fünf, weil ich um acht in Emden sein musste. Ansprache vor Mitarbeitern der Nordseewerft. Böse Sache, das Werftensterben in Deutschland. Für die Region eine Katastrophe.“
„Ihr Fahrer wird sicherlich bestätigen können, dass Sie Celle gegen halb zehn verlassen haben.“
„Kann er nicht. Ich habe ihn nachmittags nach Hause geschickt. Der Mann pfiff aus dem letzten Loch. Niedersachsen ist ein Flächenland, Wahlkampf artet hier in Menschenschinderei aus. An manchen Tagen reißen wir tausend Kilometer herunter. Und in jedem Kaff musst du topfit und perfekt vorbereitet erscheinen. Du musst wissen, wie es um die Umgehungsstraße steht, wann das Dach der Schule
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