Der Spitzenkandidat - Roman
man das Sport nennen will. Ich nenne es Umtrunk mit Alibi. Vor Mitternacht ist Madame an diesen Abenden nicht zu Hause. Wir haben kurz miteinander geredet, ich war noch nicht eingeschlafen.“
Kein Alibi für die Tatzeit, aber ein Motiv. Stollmanns Gegenüber schien die Gedanken des Besuchers zu ahnen.
„Ich gebe zu, dass ich stocksauer auf Stein war. Aber das war für mich kein Grund, ihn zu erschlagen. Sind nicht Millionen Menschen im Land wütend auf unsere Politiker? Und haben diese Menschen nicht alle recht? Sie schimpfen, wenn es hochkommt. Oder sie wählen eine radikale Partei. Aber ein Mord …? Also wirklich.“
„Wäre schön, Herr Hübner, wenn Sie noch heute ins LKA kommen, Zimmer 406. Frau Schramm wird Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.“
„Heute Mittag fliege ich nach Wien. Als Europäischer Betriebsrat muss ich mich auch um die anderen Werke der Tawes AG kümmern. Morgen Nachmittag bin ich zurück, dann kann ich zu Ihnen kommen. Ist das okay?“
Bevor Stollmann ging, bedankte er sich beim Zerberus für die Verpflegung. Der Strich stieg an seinen Enden in die Höhe, aber nur sanft.
„Ein kleiner Tipp“, sagte der Kommissar. „Ihr Chef reagiert augenscheinlich empfindlich auf den Kaffee. Wenn Sie ihn künftig vielleicht eine Winzigkeit schwächer …?“
„Wo denken Sie hin? Er kriegt seit Monaten nur noch koffeinfreien. Bei seinem Kreislauf würde ihn richtiger Bohnenkaffee umbringen.“
30
Petra Schramm glühte vor Eifer. Sie schätzte ihre Chefin und gönnte ihr das lästige Virus nicht. Aber seitdem die Chefin krank war, liefen alle Fäden bei ihr zusammen. Das war einfach großartig. Gott und die Welt sprachen sie an, teilten ihr Ermittlungsergebnisse mit, legten ihr Unterlagen vor und – unfassbar – wollten ihre Meinung zu diesem und jenem hören. Selbst der Abteilungsleiter Hirschmann erkundigte sich nach dem Stand der Ermittlungen. Mit einem Mal war sie wer und wurde nicht mehr nur als unbedeutende Mitarbeiterin wahrgenommen. So fühlte es sich also an, wenn man in der Hierarchie oben stand. Aus dieser Perspektive sah der Arbeitsalltag im LKA anders aus als aus dem Blickwinkel einer kleinen Kriminalinspektorin, die als Sachbearbeiterin einer Dezernatsleiterin zur Seite gestellt worden war.
Eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages, schwor sie sich, würde sie eine Position wie Verena Hauser bekleiden. Alle Voraussetzungen waren gegeben. Sie war tüchtig, ehrgeizig und jung. Ihre Zeugnisse und Beurteilungen waren überdurchschnittlich. Dass sie attraktiv aussah, war bestimmt nicht von Nachteil. Mit der Hauser kam sie gut klar, mit Stollmann weniger, aber der hatte nicht viel zu melden, was das Fortkommen von Kollegen anging. Wichtig war der Abteilungsleiter Hirschmann, und da sah es erfreulich für sie aus. Die Blicke, mit denen er sie während der Besprechungen musterte, waren wohlwollend, sehr wohlwollend. Sie war weder blind noch begriffsstutzig und würde ihre Chancen nutzen. Wenn nötig, unter Einsatz ihrer weiblichen Stärken. Andere Frauen taten das auch, daran war nichts verwerflich.
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie das Telefon erst beim dritten Läuten abnahm. Der Pförtner. Sie konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass das LKA einen Mann beschäftigte, der auf die siebzig zuging. Er hatte so eine großväterliche Art und behandelte alle jungen Kollegen, als wären sie seine Enkel. Besonders sie. Eine Frau Sänger wolle Frau Hauser oder ihren Vertreter sprechen, wegen des Mordfalles. Was er tun solle?
„Schicken Sie die Dame zu mir. Ich werde mit ihr sprechen.“
Das Zögern des Pförtners war durch den Hörer zu spüren.
„Okay, wenn Sie meinen“, sagte er ohne Überzeugung.
„Dein Glück, du Grufti“, knurrte Petra.
Frau Sänger mochte Anfang fünfzig sein, vielleicht etwas darüber. Der lange graue Rock und die ebenso formlose Strickjacke ließen sie farblos erscheinen. Ihr ungeschminktes Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen, ihren kurz geschnittenen Haaren fehlten Chic und Richtung. Petra stellte sich vor.
„Ich wollte eigentlich Frau Hauser sprechen, sie leitet doch die Ermittlungen im Mordfall Uwe Stein?“
„Sie ist krank geworden, ich vertrete sie.“
Die Lüge ging ihr leicht über die Lippen. Petra verdrängte die Dienstvorschrift, die etwas anderes vorsah. Weshalb den unfähigen Vertreter ihrer Chefin, der ihr zwar im Rang überlegen war, aber nur dort, mit der Sache behelligen? Sie war ohnehin mit dem Fall
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