Der Spitzenkandidat - Roman
die Direktorin der Glockseeschule, die Mutter von Katharinas Schulfreundin. Die Post lud massenweise Beileidskarten ab, ungeöffnet lagen die Stapel auf der Kommode im Flur. Sie würde das niemals lesen, aber sie konnte sie auch nicht wegwerfen. Nicht bevor er beerdigt war. Und noch war der Leichnam nicht freigegeben.
Isabel war nicht dumm, sie wusste, was sie mit Uwes Körper anstellen würden. Bei der Obduktion würden sie die Arsenrückstände finden. Danach mussten sie nur noch zwei und zwei zusammenzählen. Für diesen Fall hatte sie vorgesorgt: ein Album voller Fotos. Fotos, auf denen ihre Verletzungen in allen Varianten zu sehen waren. Blaue Flecken an Armen und Beinen, Hämatome am Hintern und am Rücken, rote Striemen am gesamten Körper. Zuerst hatte die Fotografin, eine Iranerin, entsetzt reagiert. Sie hatte wissen wollen, wer ihr die Verletzungen zugefügt hatte. Isabel hatte das Honorar verdoppelt, die Fotografin hatte aufgehört, Fragen zu stellen. Gefasst sah sie der Zukunft entgegen. Vielleicht würden sie sie für einige Zeit ins Gefängnis schicken, aber der unbekannte Mörder hatte dafür gesorgt, dass die Strafe nicht hoch ausfallen würde.
Was Isabel mehr beunruhigte, waren die Anrufe. Vorgestern war der erste gekommen. Eine merkwürdig schnarrende Männerstimme. Er wollte ihr kein Beileid aussprechen und er wollte ihr auch nicht seinen Namen nennen. Angeblich war er ein ehemaliger Geschäftspartner von Uwe, angeblich schuldete Uwe ihm Geld, 1,2 Millionen Euro. „Ich will mein Geld.“ Und aufgelegt. Vorgestern Abend, wenige Stunden nachdem Bitter Gast in ihrem Haus gewesen war.
1,2 Millionen? War der Mann verrückt? Dann hatte sie sich doch aufgerafft und sich den Ordner mit Uwes Bankunterlagen vorgenommen. Sein Girokonto wies ein Guthaben von 17.492,30 Euro auf. Auf dem Sparbuch waren 24.500 Euro eingetragen. Im Depot lagen Aktien der Deutschen Antriebstechnik im Wert von 20.000 Euro. Sie hatte überall nach weiteren Unterlagen gesucht, erst an den plausiblen Orten, danach hatte sie seinen Schreibtisch auf den Kopf gestellt und sogar unter dem Bett und unter der Matratze nachgeschaut. Kein Geldschein, kein Hinweis auf ein Auslandskonto.
Sie hatte sich damit beruhigt, dass der Mann ein Spinner war. Mehrfach hatte sie gelesen, dass Betrüger und Bluffer im Umfeld von Todesfällen den trauernden Angehörigen Geld abluchsen wollten – meist existierten angeblich offene Rechnungen. Es gab Spaßvögel, die geschmacklose Spielchen spielten. Natürlich hatten auch einige Redaktionen angerufen, wollten Isabel überreden, ein Interview zu geben. Sie hatten Geld angeboten – und noch mehr Geld, falls Isabel private Fotografien zur Verfügung stellen würde.
Sie lenkte sich mit der bevorstehenden Beerdigung ab. Die Partei wollte aus der Beisetzung ein Medienereignis machen, ihr schwebte eine Messe in der Marktkirche vor. Es gab Fernsehanstalten, die alles live übertragen wollten. Isabel war in die Parteizentrale gefahren, man hatte sie durch den Hintereingang gelotst. Dann wurde verhandelt und am Ende ein Kompromiss gefunden: eine Messe für die Öffentlichkeit in der Marktkirche, die Beerdigung im kleinsten Kreis ohne Medien, ohne einen einzigen Fotografen.
Vor einer Stunde hatte der Unbekannte erneut angerufen. „Hier bin ich wieder, Frau Stein. Haben Sie sich inzwischen einen Überblick über die Finanzen Ihres verstorbenen Gatten verschafft? Haben Sie das Geld gefunden?“
Sie hatte Mühe, gefasst zu bleiben. Die Stimme klang hart, ein osteuropäischer Akzent. Was wollte der Kerl von ihr?
„Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich kann Ihnen versichern: Es gibt keine 1,2 Millionen, jedenfalls nicht auf den Konten meines Mannes. Hören Sie auf, mich anzurufen.“
„Ihr verstorbener Mann wird das Geld ins Ausland transferiert haben. Ein Nummernkonto, ein Bankdepot.“
„Von einem Auslandskonto weiß ich nichts. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Nun hören Sie mir mal gut zu. Ihr Ex-Mann hat mich beklaut. Und ich mag es gar nicht, beklaut zu werden. Das Geld muss da sein, er wird es nicht in die Leine geworfen haben, so heißt Ihr dreckiger Fluss doch, oder? Ich rate Ihnen, suchen Sie. Suchen Sie gründlich. Sie haben bis nächsten Mittwoch Zeit, keine Stunde länger. Dann will ich das Geld haben. Wenn nicht, werde ich andere Seiten aufziehen. Seiten, die ich Ihnen gerne ersparen würde. Ich bezweifle, dass Sie die Begegnung in angenehmer Erinnerung behalten werden. Vor allem Ihr
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