Der Spitzenkandidat - Roman
Mordfall. Sie hätten uns sagen müssen, dass Stein sich bedroht fühlte.“
„Von Bedrohung war keine Rede. Er hat mir einfach nur den Umschlag gegeben, mich gebeten, ihn seiner Frau auszuhändigen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Mehr war nicht. Ich glaube nicht, dass das Schreiben für die Aufklärung des Mordfalles eine Rolle spielt.“
„Wieso nicht? Sie wissen doch gar nicht, was drinsteht. Oder wollen Sie eine Information nachschieben?“
„Sie kommen mir gereizt vor.“
„Woran das wohl liegen mag. Wir sehen und sprechen uns.“ Energisch ging Verena zur Haustür, und Hackmann beeilte sich, zu seinem Wagen zu kommen.
Beim Anblick der Polizistin verzog Isabel Stein ihr Gesicht und machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. Sie sah schlecht aus, tiefe Ränder unter den Augen und noch blasser als beim letzten Mal.
„Tag, Frau Stein. Wir müssen reden. Ich darf wohl reinkommen.“
„Viel Zeit habe ich nicht.“ Die Witwe gab nur unwillig den Weg frei.
Im Wohnzimmer hatte sich nichts verändert. Der geöffnete Umschlag fiel ihr sofort ins Auge. Der hatte beim ersten Besuch Verenas noch nicht dort gelegen. Daneben ein Blatt, eng beschrieben. Hackmanns Hinterlassenschaft.
Frau Stein bot ihrer Besucherin keinen Platz an. Verena setzte sich auf die Couch und sah zu, wie Frau Stein das Papier hastig in den Umschlag stopfte.
„Es geht um Ihren Mann“, begann Verena.
„Natürlich. Es geht ja immer um Uwe. So ist er es gewöhnt.“
„Ich werde den Verdacht nicht los, dass Sie mich erwartet haben“, fuhr Verena fort. „Das Institut für Gerichtsmedizin hat Biozide in seinem Magen gefunden. Und Rückstände in der Niere. Jemand hat Ihrem Mann über Wochen Arsen zugeführt. Das kann nur jemand gewesen sein, der Essen für ihn zubereitet.“
Die Witwe zeigte keine Reaktion, dann stand sie auf, trat an die Schrankwand und zog ein Fotoalbum heraus, das sie Verena reichte.
Die Fotos, jedes mit einem Datum versehen, waren abscheulich. Zwischen dem ältesten und dem jüngsten lagen drei Jahre. Eines wurde Verena schnell klar: Stein hatte mit Bedacht zugeschlagen. Es gab kein einziges Bild mit Wunden im Gesicht. Sonst kam alles vor, was der Fahnderin eine Ahnung von jahrelangem Martyrium verschaffte. Sie kannte solche Bilder. Aus dem Rotlichtmilieu, wo Frauen als Handelsware behandelt wurden. Wenn sie nicht funktionierten, wurden sie geschlagen, immer öfter auch gefoltert. Seitdem die Albaner im Geschäft sind, sind die Sitten noch rauer geworden als vorher. Bei dem angesehenen Spitzenkandidaten der Bürgerpartei hatte sie solche Fotos nicht erwartet.
„Warum haben Sie die Schläge dokumentiert? Und warum sind Sie damit nicht längst zu uns gekommen?“
„Das Album mag aussehen wie von langer Hand geplant. Aber so war es nicht. Zuerst wollte ich es nur festhalten. Ich weiß auch nicht, warum. Es war für mich so etwas wie eine Versicherung. Wofür? Ich kann es nicht sagen.“
Sie wollte etwas gegen ihren Mann in der Hand haben. Aber sie wollte es offenbar auch nicht aus der Hand geben. Was war der Grund? Ein nicht nachvollziehbarer Rest Zuneigung? Angst? Die Fotos waren über einen langen Zeitraum entstanden. Isabel war ins Fotostudio gegangen, mehrmals.
„Gut, Sie sind also nicht zur Polizei gegangen. Aber Sie sind auch nicht untätig geblieben. Sie haben Schutz im Frauenhaus gesucht und später haben Sie Fotos gemacht. Dann haben Sie Ihren Mann vergiftet. Erklären Sie mir das.“
„Wäre ich zur Polizei gegangen, hätte Uwe mich fertig gemacht. Als geisteskrank hätte er mich hingestellt, als durchgeknallt. Dabei war er es, der durchgeknallt war. Man wusste nie, wann es wieder soweit war und er zuschlug. Und ich konnte ihn nicht einfach verlassen. Er hätte es nicht zugelassen. Er hat mich geliebt, auf seine Weise. Hinterher tat es ihm leid, immer wieder hat er Besserung gelobt. Irgendwann habe ich es ihm nicht mehr geglaubt. Es war wie bei einem Trinker. Er wollte damit aufhören, aber er konnte nicht. Außerdem hatte ich Angst, dass er mir Katharina wegnimmt. Was glauben Sie denn, wem die Behörden glauben? Dem erfolgreichen Politiker, der dabei ist, ihr oberster Chef zu werden? Oder einer unscheinbaren Frau, bedeutungslos und unbekannt?“
„Sie sind nicht bedeutungslos. Sie sind intelligent, hatten einen eigenen Beruf und sie haben eine Tochter. Leider haben Sie zugelassen, dass Sie sich nicht mehr akzeptieren. Sie haben sich kleiner gemacht als Sie sind, sie haben sich jahrelang
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