Der Spitzenkandidat - Roman
Verfügung.“
Alfred Bitter, 59 Jahre alt, erfreut sich insbesondere in den ländlichen Regionen und bei älteren Mitbürgern großer Beliebtheit. Sein Verhältnis zu der Frauenorganisation und insbesondere zu ihrer Vorsitzenden Frau Peters gilt hingegen als gestört
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Für die Landtagswahlen bedeutet die Kandidatur Bitters, dass das Rennen wieder spannender wird. Bitter liegt in den Meinungsumfragen nur knapp vor dem Oppositionsführer. Die Partei selbst verzeichnet nach einer aktuellen Telefonumfrage allerdings nach wie vor einen Vorsprung von zehn Prozent vor der Oppositionspartei
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Der Mord an Uwe Stein scheint nach wie vor von einer Aufklärung weit entfernt. Immer mehr Bürger melden sich, um ihren Unmut über den schleppenden Fortgang der Ermittlungen kundzutun. Die Frage drängt sich auf, ob das LKA in Hannover überfordert ist. Der Innenminister wies entsprechende Fragen auf der heutigen Landespressekonferenz empört zurück. Die Polizei in Niedersachsen sei gut aufgestellt, erklärte er. Er sei zuversichtlich, dass der Fall in Kürze gelöst werde
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Wie aus vertraulichen Quellen zu erfahren war, soll Steins Frau vor einigen Jahren Schutz im Frauenhaus Hannover gesucht haben. Angeblich nach einer Prügelattacke ihres Ehemannes. Die Leiterin des Frauenhauses war zu keiner Stellungnahme zu erreichen. Frau Stein selbst war ebenfalls nicht zu sprechen. Bernd Wagner, Wahlkampfmanager der Bürgerpartei, erklärte auf Befragen, dass er die Vorwürfe für absurd halte. Als enger Mitarbeiter des Politikers könne er mit Bestimmtheit sagen, dass der Politiker seine Familie über alles geliebt habe
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Allgemeine Niedersachsenzeitung, 5. September 2011
Wagner beobachtete den Parteivorsitzenden. Was kommen würde, war unvermeidlich. Wenn Alfred Bitter solche Artikel lesen musste, führte das regelmäßig zu spätfeudalistischen Aufwallungen. Auch jetzt. Der Landesvorsitzende war stinksauer. Sein Ärger war umso größer, da er nicht daran zweifelte, dass alles, was er gerade gelesen hatte, in vollem Umfang der Wahrheit entsprach. Genau diese Wahrheit war es, die nicht akzeptiert werden durfte. Diese Wahrheit musste aus der Welt geschafft oder zumindest so weit relativiert werden, dass sie ihre vernichtende Schärfe verlor.
„Wo bleibt Krause bloß? Es ist ja keine Weltreise, die er zu absolvieren hat.“
Bevor Wagner eine witzige Bemerkung, die die angespannte Situation auflockern sollte, von sich geben konnte, fuhr Bitter aufgebracht fort. „Ein Spitzenkandidat, der seine Frau verprügelt! So oft, dass sie ins Frauenhaus flüchtet, womöglich an der Hand das kleine Kind! Eine Katastrophe für unsere Partei! Und das nicht nur, weil die Regierung erst vor wenigen Wochen eine Kürzung der Landeszuschüsse für die Frauenhäuser in Niedersachsen auf den Weg gebracht hat. Gewalt in der Familie und gegen die eigene Frau – das passt nicht zu uns. Gewalt in der Familie ist ein Problem der Randgruppen, der Unterschicht und der Migrantenfamilien, vorrangig aus Nicht-EU-Staaten. Die Sache muss so schnell wie möglich aus der Welt geschafft werden.“
Wagner nickte, in diesem Zustand war es nicht ratsam, dem Parteivorsitzenden zu widersprechen. Hoffentlich schaffte Fritz Krause, seit fünf Jahren Innenminister, es endlich, den Aegidientorplatz zu überwinden, wo Tag für Tag ein Dauerstau für Ärger sorgte. Als der Minister mit Verspätung eintrudelte, schoben die Politiker der Verkehrsministerin die Schuld zu, sie hatte ihr Ministerium nicht im Griff. Bitter war nicht erst seit heute entschlossen, sie nach der Wahl abzusetzen, aber das war vorerst topsecret. Denn der Verlust einer Frau am Kabinettstisch würde die Frauengruppe auf den Plan rufen. Und mit der Quoten-Peters hatte er auch so genug Ärger.
Bitter reichte die Zeitung über den Tisch.
„Kenne ich“, knurrte Krause, „schöne Scheiße“.
Bei Wagner waren erste Anfragen von GTV und vom Fernsehen Niedersachsen aufgelaufen. Dass ausgerechnet der beliebte Politiker Stein ein Schläger gewesen sein soll, rief die Medien auf den Plan, das roch nach Sensation. Mit jedem Wort, das Wagner von sich gab, wurden die Gesichter der Politiker länger.
Es kam jedoch noch viel schlimmer. Der Innenminister war soeben darüber informiert worden, dass früh am Morgen Frau Stein und ihr Anwalt bei der Staatsanwaltschaft aufgetaucht waren. Selbstanzeige. Sie war bereits am Abend des Vortages bei einer Vernehmung durch die Ermittlungsleiterin geständig gewesen:
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