Der Spitzenkandidat - Roman
scheinheilig. Denen von der Antriebstechnik ging es doch nie um eine Fusion, die den Namen verdient. Die wollten uns ausschlachten und den Standort Hannover nach einer Schamfrist aufgeben.“
„Passen Sie bloß auf, was Sie sagen, Hübner. Das hört sich ja so an, als ob der Mord Ihnen gelegen kommt. Im Übrigen gibt es einen neuen Kaufinteressenten. Ich sag’s Ihnen gleich: Er kann mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden Bitter leben.“
„Mist.“
Hansen lächelte und räumte ein, über keine genauen Informationen zu verfügen. Angeblich sollten Gespräche auf der Delegationsreise des Wirtschaftsministers nach St. Petersburg stattgefunden haben.
Hübner erhob sich, lief auf und ab.
„Ein russischer Investor? Das hat noch gefehlt. Na danke sehr. Wo das hinführt, wissen wir alle. Die kaufen sich ein, zahlen einen kleinen Teil, lassen die Firma in Konkurs gehen und schlachten sie aus.“
„Es gibt auch positive Beispiele“, stellte Hansen klar. „Okay, nur wenige, aber es gibt sie. Aber was soll’s. Ändern können wir ohnehin nichts.“
„Positive Beispiele? So groß kann die Lupe gar nicht sein, um diese zu finden. Die Beschäftigten werden begeistert sein, wenn sie das erfahren.“
Hansen warf Hübner einen resignierten Blick zu. Seine Stimme klang müde, als er sagte: „Herr Rausch hat von Ihren gesundheitlichen Problemen erfahren, er befürwortet es, wenn Sie sich in eine Klinik begeben, um wieder auf den Damm zu kommen. Ich befürworte das auch. Nicht, weil ich Sie loswerden will, sondern weil es Momente im Leben gibt, wo man zuerst an sich selbst denken muss.“
„Ich bin fit.“
„Mir wurde zugetragen, dass Sie in der letzten Woche Probleme mit dem Kreislauf hatten.“
„Das Wetter, alle haben gelitten.“
„Aber in Ihrem Fall ist es nicht zum ersten Mal passiert. Dazu kommt noch etwas.“ Er zögerte. „Um es klar zu sagen: Ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, ob Sie der Mörder des armen Uwe Stein sein könnten. Aber auf der anderen Seite ist es nun mal so, dass wir die Polizei im Haus hatten und dass man Sie zum Mordfall vernommen hat. Sie können die Uhr danach stellen, wann das erste Gerücht seine Runde macht. Irgendwas bleibt immer hängen, du kannst gegen ein Gerücht nicht ankämpfen. Auch aus diesem Grund halte ich Ihren vorübergehenden Rückzug aus dem operativen Geschäft für sinnvoll, Herr Hübner. Verstehen Sie mich? Ich will nur Ihr Bestes.“
Scheiß drauf, dachte Hübner. Der Druck kehrte zurück, Schweiß brach aus, vor seinen Augen wurde es dunkel, er hörte auch nicht mehr so gut, ging wie auf Watte. Hübner hielt sich an der Sessellehne fest.
Sie wollten ihn also tatsächlich aus dem Verkehr ziehen, nach über 30 Jahren im Betrieb. Weil er die Kaufverhandlungen stören könnte. Damit dieser Schmarotzer Rausch einen guten Preis erzielen konnte. Er fand die Fürsorge für ihn und sein Befinden abgeschmackt. Und die Gerüchte um Steins Ermordung waren üble Nachrede.
In weiter Ferne hörte er Hansen sagen: „Mit 59 darf man an sich selbst denken. Beantragen Sie eine Kur, werden Sie wieder gesund, kommen Sie zurück, dann sehen wir weiter.“
Wenn er in vier oder fünf Wochen zurückkäme, hätten die Russen im Haus das Sagen und würden ihn umgehend in Altersteilzeit schicken. Sein Vertreter würde sein Nachfolger werden und den neuen Herren keinen Widerstand entgegensetzen.
Hansen monologisierte über die jungen Arbeitnehmer der Gegenwart, die mit dem Betriebsratsdenken alter Schule nichts mehr anfangen könnten. Und dann kam ein weiteres Mal die Arie von der Globalisierung und den aufstrebenden Schwellenländern, die der deutschen Wirtschaft den Platz abliefen. „Wir können den Lauf der Welt nicht aufhalten, Hübner. Wir können nur versuchen, jeder für sich, das Beste daraus zu machen. Es wäre besser gewesen, Stein würde noch leben und die Deutsche Antriebstechnik würde uns übernehmen. Jetzt wird alles noch viel schlimmer. Stein wollte uns nicht schaden, er war ein kluger Kopf, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Ist es nicht das, was wir uns alle von unseren Politikern wünschen: Weitsicht und Visionen? Stein hatte beides.“
Hübner dachte: Vielleicht, vielleicht hat er sogar recht und alles ist noch viel schlimmer, als ich befürchtet habe, und die viel gerühmte soziale Marktwirtschaft hat sich längst aus diesem Land verabschiedet. Würde die weltweite Globalisierung Deutschland in einen Abwärtsstrudel ziehen, der nur eine Richtung kennt:
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