Der Spitzenkandidat - Roman
nach unten? Würde eine Gesellschaft entstehen, in der es nur noch befristete Arbeitsverträge, Niedriglöhne und eine stets wachsende Zahl von Menschen gibt, die auf Sozialleistungen angewiesen sind und die niemand mehr finanzieren will?
Hansen fuhr fort: „Ich weiß sehr gut, was jetzt in Ihnen vorgeht. Wenn man ein Leben lang für seine Leute gekämpft hat, fällt es schwer, loszulassen. Aber irgendwann muss man loslassen. Irgendwann trifft es jeden von uns. Den einen früher, den anderen später.“
Mit einem knappen Nicken verließ Hübner das Büro, ging auf kürzestem Weg in die Räume des Betriebsrates und betrat das Büro seines Stellvertreters. Der Kerl war eingeweiht, sein Gesicht verriet ihn. Nach dem ersten Satz von Hübner wechselte er die Gesichtsfarbe und begann zu stammeln: seine Sorge über Hübners Gesundheit, die Kollegen im Betriebsrat, die für einen Generationswechsel plädierten. Davon hörte Hübner zum ersten Mal. Hatte er nicht zu allen Kollegen ein vertrauensvolles Verhältnis gepflegt, sich für sie eingesetzt, ihren Kindern Ausbildungsplätze beschafft, sie in persönlichen Lebenskrisen mit Rat und Tat unterstützt und für ihre Rechte gekämpft?
In den nächsten Stunden suchte er jeden Kollegen vom Betriebsrat auf. Bis auf die Frauenbeauftragte, die auf seiner Seite stand, zeigten ihm alle die kalte Schulter. Hinter seinem Rücken war an seinem Stuhl gesägt worden und er hatte es nicht einmal bemerkt. Irgendwie albern: Sein Intimfeind Stein war tot und nun wurde er selbst auch zu Fall gebracht.
Müde und resigniert kehrte Hübner in sein Büro zurück. So fühlte es sich also an, wenn man aussortiert wurde. Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, streckte die Arme von sich und versuchte auf diese Weise, seine Atemnot zu bezwingen. Das Herz klopfte laut, schnell und nicht regelmäßig. Er musste sich bewegen, Stillsitzen war der halbe Tod. Und wenn Hansen recht hatte? Wenn es besser für ihn war, sich um Herz und Kreislauf zu kümmern? War der Kampf, den er führen wollte, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Ein Betriebsratsvorsitzender gegen die Connection von Politik und Kapital?
Sein Kopf schmerzte. Er legte für einen Moment seine Hände auf seine Stirn. Dann wanderte sein Blick auf den Schreibtisch. Der Zettel mit der Telefonnummer, die ihm der Arzt mitgegeben hatte, lag unter seiner Schreibtischauflage. Nicht in Sichtweite, aber erreichbar. Die Schwester am anderen Ende klang gehetzt. Wenn es eilig sei, könne er morgen in die Notaufnahme der Medizinischen Hochschule kommen. Dann werde man weitersehen. „Ja“, murmelte Hübner, „dann wird man weitersehen.“
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Welchen Beruf hat Ihr Vater ausgeübt? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Blöde Fragen, aber Verena Hauser schaffte es, sie mit spanischen Worten zu beantworten und war stolz darauf. Um halb sieben hatte sie Hannover verlassen, am Bremer Kreuz geriet sie in den ersten Stau. Berufsverkehr. Über Nacht hatte sich ihr Zustand verbessert, keine Schwäche mehr, keine Schmerzen, nur letzte leichte Wellen von Unwohlsein. Appetit verspürte sie noch nicht. Aber das Virus war auf dem Rückzug, und die Kriminalrätin konnte sich im Auto ihrer Leidenschaft hingeben: Spanisch für Anfänger, Teil 2. Spätfolgen ihres Winterurlaubes, Vorboten des kommenden Golfurlaubes in der Nähe von Cádiz.
Hinter Delmenhorst wurde es leerer, gegen halb zehn erreichte sie die Ausfahrt Papenburg. Bis hierher war sie noch nie gekommen. Sie hatte Leer, Aurich und die Ostfriesischen Inseln besucht, aber nicht das Emsland. Hirschmann, Experte für Geografie und Landschaften, hatte ausgiebig geschwärmt, von heiler Welt gesprochen, schmucken kleinen Städtchen und Dörfern, viel Natur und gesunder Luft. Stollmann hatte widersprochen, Worte wie ödes Flachland mit blökenden Schafen und dazwischen endlos lange Kanäle waren gefallen. Sie verließ die Autobahn und fuhr durch eine flache, kaum besiedelte Landschaft. Die ruhige Umgebung war wohltuend.
Dagmar hatte ihr ans Herz gelegt, unbedingt eine Runde am Papenburger Golfplatz zu gehen. Jetzt bedauerte Verena es, ihr Golfbag nicht eingepackt zu haben. Das Wetter war mild und klar, die Wiesen waren nach dem Regen wieder saftig grün, darauf zufrieden grasende Kühe, der Himmel war blau mit Sahnewolken. Ein Horizont, der kein Ende nehmen wollte. Das Emsland entpuppte sich an diesem Vormittag als Bilderbuchlandschaft.
Das Seniorenheim Johannesstift lag unweit des Zentrums,
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