Der Sprung ins Jenseits
auf.
»Er atmet noch, aber es ist kaum wahrnehmbar. Der Körper ist nicht tot, er ist vielleicht scheintot. Wenigstens nennen wir diesen Zustand so. Trotzdem dürfte das eigentlich nicht der Fall sein. Wenn dieser Körper nur eine Seele hat, müßte er wirklich tot sein – tot im medizinischen Sinn. Er lebt aber noch.« Er sah mich fragend an. »Ist es möglich, daß dieser Körper eine zweite Seele besitzt?«
Zögernd nickte ich. Dann berichtete ich von unserem Erlebnis – dem Raubüberfall in Tibet. Dr. Frederik lächelte befriedigt, als bekäme er eine Theorie bestätigt.
»Fast habe ich es mir gedacht. Wenn ich diesen Körper zum Leben erwecke und wenn bis dahin die Seele Ihres Freundes nicht zurückgekehrt ist, was wird dann geschehen? Es wird der Räuber sein, der dann im Bett liegt, nicht Ihr Freund Yü. Ich hoffe, wir können ihm erklären, wie er hierhergekommen ist.«
Er holte eine Injektionsspritze aus der Tasche, zerbrach die Spitze einer winzigen Phiole und füllte den Kolben mit einer wasserklaren Flüssigkeit. Dann nahm er die Decke vom Körper Yüs und injizierte das Serum in den Oberschenkel des Tibeters. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er:
»Es beginnt mich zu interessieren, was nun geschehen wird. Wenn Ihr Freund Yü nicht rechtzeitig zurückkehrt, wird es Komplikationen geben. Hoffen wir, daß das nicht der Fall sein wird. Es dauert etwa zwanzig Minuten. Es ist besser, wir lassen unseren Patienten solange allein.«
Wir gingen wieder hinunter in das Arbeitszimmer des Astronomen. Unser Gespräch drehte sich um nebensächliche Dinge. Immer wieder ertappte ich mich dabei, daß ich lauschte. Ich erwartete jeden Augenblick, daß der erschreckte und wütende Räuber die Treppen hinabgestürmt kam.
Als wir kurze Zeit später wieder hinauf in das Zimmer gingen, saß der Patient aufrecht im Bett und starrte uns neugierig entgegen. An den Augen erkannte ich, daß es nicht Yü war, der dort im Bett saß. Es waren die Augen jenes Mannes, der uns in Tibet mit dem Tod gedroht hatte. Aber diesmal war keine Drohung in den Augen, sondern nackte Angst.
Dr. Halström schloß die Tür.
Da ich der einzige der Anwesenden war, der die tibetische Sprache verstand, sagte ich:
»Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Sie waren krank und haben Ihr Gedächtnis verloren. Wissen Sie, wer Sie sind?«
Der Mann schien mich verstanden zu haben. Dann schüttelte er den Kopf.
»Ich weiß überhaupt nichts. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen?«
Wir erzählten ihm, daß wir ihn auf der Straße gefunden hätten. Wir sagten ihm auch, daß seine Heimatsprache tibetisch sei und daß sein Land mehr als siebentausend Kilometer von Schweden entfernt sei. Er begriff überhaupt nichts, und wir hüteten uns, ihn aufzuklären. Dr. Frederik erbot sich, ihn kostenlos für vier Wochen in seine Privatklinik aufzunehmen, um ihn zu beobachten. Der Tibeter willigte ein. So gingen wir alle für ein Monat den Schwierigkeiten aus dem Weg, die das plötzliche Auftauchen eines Namenlosen mit sich gebracht hätte. Auf der anderen Seite würde es Yü nicht schwerfallen, seinen verlassenen Körper zu finden, falls er zurückkehrte. Unserer Ansicht nach hatten wir damit alle Probleme gelöst.
Als Dr. Frederik mit seinem Patienten gegangen war, saßen Dr. Halström und ich noch in seinem Arbeitszimmer zusammen.
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Glas und spülte meine Unsicherheit hinunter.
»Sie werden verstehen, Dr. Halström, daß ich das Experiment meines Freundes wiederholen muß. Ich muß Yü finden, wo immer er auch ist.«
»Werden Sie ruhig deutlicher, Mr. Winter.«
»Ich werde mich noch heute abend in mein Bett legen und versuchen, den Planeten Saturn zu erreichen. Kümmern Sie sich bitte nicht um mich, sondern lassen Sie mich im Bett liegen, was immer auch geschieht. Rufen Sie in fünf oder sechs Tagen Dr. Frederik, damit er mich untersucht. Aber er braucht mir keine Injektion zu geben, denn ich besitze keine zweite Seele. Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich verlasse mich auf Sie. Und ich werde zurückkehren – wenn ich es kann.«
»Seien Sie mir nicht böse, Winter, aber Sie sind verrückt. Was Ihrem Freund Yü nicht gelang, wird Ihnen auf keinen Fall gelingen. Er hatte mehr Erfahrung als Sie. Der Fremde auf Titan wird einen weiteren Versuch erwarten und gewarnt sein. Ich bin überzeugt, daß er die Verzögerung der Rückkehr Ihres Freundes verursachte.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie
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