Der Stalker
bestrafen?«
»Ich wollte schon eine ganze Menge Leute schlagen. Hab ich auch. Wenn sie es verdient hatten. Aber noch nie eine Frau.«
»Gut.« Sie lächelte, dann deutete sie mit einem Kopfnicken in Richtung des Spiegels. »Ich wette, Mr Turner schon. Ich würde sogar sagen, dass er noch viel mehr getan hat als das.« Sie warf einen raschen Blick auf ihre Notizen. »Stalker fallen für gewöhnlich in eine von zwei Kategorien. Solche mit und solche ohne Psychose. Häufig sind sie krankhaft erotoman oder sadistisch veranlagt – die schlimmsten aller Frauenhasser. Und obwohl man unseren Mr Turner hier wirklich nicht als ein Vorzeigeexemplar des männlichen Geschlechts bezeichnen kann, passt er in keine dieser Kategorien. Nein, ich glaube nicht, dass er unser Stalker ist. Das muss der andere sein. Der vom Boot.« Wieder zeigte sie auf die Scheibe. »Die Frage ist also: Wie passt er ins Bild? Was hat er von der ganzen Sache? Turner …«
Marina wandte sich kurz ab, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Sie dachte nach – vermutete Mickey zumindest. Er beobachtete sie fasziniert. Sie war vollkommen anders als Fiona Welch. Reifer. Attraktiver. Diesen letzten Gedanken schob er schnell beiseite – er wusste ja, dass sie die Freundin vom Boss war. Aber da war noch etwas anderes an ihr. Eine Entschlossenheit. Sie schien genau zu wissen, wovon sie sprach, und gab sich Mühe, alles auf eine Weise auszudrücken, die für andere nachvollziehbar war. Das, so viel wusste er aus Erfahrung, war bei Profilern eher die Ausnahme als die Regel.
»Ich glaube … ja, ich glaube, unser Mr Turner hat eine andere Motivation«, sagte sie schließlich. »Und die hat irgendwie mit Fiona Welch zu tun.« Sie nickte, als wolle sie die Richtigkeit des Gedankengangs für sich selbst bestätigen. »Sie ist untrennbar mit ihr verbunden.« Sie öffnete die Augen und wandte sich wieder zur Scheibe. Betrachtete Turner eine Zeitlang aufmerksam. Er saß immer noch vollkommen still. Fast sah es so aus, als würde er schlafen.
In Mickeys Augen ein todsicheres Zeichen dafür, dass er schuldig war.
»Die beiden sind Brady und Hindley«, fuhr Marina fort. »Bonnie und Clyde. Leopold und Loeb.« Sie lächelte, und ihre Augen blitzten. Sie drehte sich zu Mickey um und machte eine Handbewegung, als spräche sie zu Seminarteilnehmern. »Ja. Genau. So sehen sie sich. Als nietzscheanische Übermenschen. Völlig klar …«
Sie ging in dem winzigen Raum auf und ab, redete und gestikulierte. Mickey sah ihr gebannt dabei zu und fragte sich, ob sie zu Hause wohl auch so war.
Dann drehte sie sich wieder zu ihm um. »Da müssen wir ansetzen. Zielen Sie auf seine Eitelkeit. Sein Ego. Denken Sie dran, wir haben es mit jemandem zu tun, der über eine hochgradig komplexe Innenwelt verfügt, aber dessen äußeres Leben vollkommen leer ist. Bei ihm spielt sich alles im Kopf ab.«
»Und weshalb hat er dann auf einmal angefangen, seine Phantasien in die Wirklichkeit zu übertragen?«
»Weil er Fiona Welch getroffen hat. Die klassische Paarung: Einer führt, der andere folgt. Der Anführer ermöglicht es dem anderen, endlich zu dem Menschen zu werden, für den er sich schon immer gehalten hat.« Sie sah ihn an. »Ist das ungefähr der Ansatz, an den Sie gedacht hatten?«
Mickey war einen Augenblick lang sprachlos. Seine Ausgangsfragen kamen ihm wieder in den Sinn.
»Äh, ja, so in etwa …«
Er dachte kurz nach. Marina sagte nichts.
»Also, das mit dem Knopf im Ohr …«
»Ja?«
»Ich glaube, ich nehme das Angebot an.«
Marina lächelte. »Dann los.«
89 »Warum haben Sie es mir nicht gesagt, Paula?«
Phil stand auf der Schwelle zu Paula Harrisons Reihenhaus. Wieder hielt sie sich am Türrahmen fest. Ihre Finger zitterten. Sie sah zum Gotterbarmen aus. Die Kleider saßen schief, als hätte sie sich im Dunkeln angezogen. Die Haare waren fettig und ungekämmt und standen ihr wirr vom Kopf ab, als wäre sie eben erst aufgewacht. Ihre Augen wanderten hin und her und wurden erst ruhiger, als sie ihn erkannt hatte. Doch als sie ihn anblickte, wünschte Phil sich, sie hätte es nicht getan. Ihre Augen waren wie zwei offene Wunden. Langsam trat sie unsicher beiseite und ließ ihn ein. Sie wirkte wie ein Geist ihrer selbst.
Das Wohnzimmer war in einem ähnlichen Zustand wie seine Besitzerin. Ein Chaos, an dem sich lange nichts ändern würde. Phil sah rechteckige helle Stellen an den Wänden, wo Bilder gehangen hatten. Er konnte sich vorstellen, welche
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