Der Stalker
hatte nicht damit gerechnet, dass sie so stark bluten würde. Wie ein Sturzbach kam es aus ihr herausgeschossen und tränkte das Laken, auf dem sie lag. Es war schrecklich gewesen, sie so leiden zu sehen und nichts tun zu können.
Aber dann war seine Tochter plötzlich da. Und sie ließ ihn alles andere vergessen.
Aber von allen Gefühlen wog die Verantwortung am schwersten. Er war Vater. Plötzlich machte er Dinge anders. Fuhr nicht mehr bei Gelb über die Ampel. War insgesamt vorsichtiger im Straßenverkehr. Sah sich um, bevor er die Fahrbahn überquerte. Trank weniger, aß gesünder. Hatte wieder angefangen zu joggen. Weil es nicht mehr nur um ihn ging oder um ihn und Marina. Es ging um ihre Tochter, für die er da sein musste. Denn wenn ihm oder Marina etwas zustieß, würde Josephina vielleicht so aufwachsen, wie er aufgewachsen war. Und das wünschte er niemandem.
Phil stand auf der Schwelle und zögerte. Neben ihm standen Rose Martin und die zuständige Angehörigenbetreuerin Cheryl Bland. Sie war eine zierliche Blondine, Mitte bis Ende zwanzig, schätzte Phil, aber es war schwer zu sagen, weil sie noch jünger aussah. Sanfte Rehaugen. In ihrem Metier war das wahrscheinlich von Vorteil.
Sein Audi parkte in der Kieseinfahrt. Das freistehende Haus war mit Stuck verziert, der pseudoheraldische Rosen und Lilien zeigte. Blumentöpfe säumten die Einfahrt wie botanische Wächter. Zu beiden Seiten der schweren hölzernen Haustür standen Lorbeerbüsche in Kübeln.
»Was erwartet uns denn?«, wollte er von Cheryl wissen.
»Sie sind beide sehr nett, wirklich. Er wird vielleicht wütend werden. Verlangen, dass wir mehr tun. Sie wird reden. Über Julie.«
Phil nickte. Dachte erneut an Eileen und Don. »Geschwister?«
»Ein Bruder. Arbeitet im Nahen Osten. Supertanker, irgendwas in der Art.« Cheryl lächelte. »Sie hat es mir gesagt, ich hab’s vergessen.«
»Wie heißen die beiden?«
»Colin und Brenda.«
Phil bedankte sich bei Cheryl, klingelte und wartete.
Kurz darauf öffnete eine Frau die Tür. Sie war schlank und sah gut aus für ihr Alter, wirkte aber erschöpft. Als sie Phil und Rose sah, glomm Hoffnung in ihren Augen auf. Dann fiel ihr Blick auf Cheryl, und die Hoffnung erlosch.
»Mrs Miller?«, fragte Phil. »Brenda?«
Sie nickte. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam heraus.
»Dürften wir vielleicht reinkommen?«
»Was ist passiert? Was wollen Sie mir sagen?« Sie klammerte sich so fest an die Türkante, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ich glaube, es wäre besser, wenn wir das drinnen besprechen könnten.« Cheryl machte einen Schritt vor und legte Brenda die Hand auf den Arm.
Brendas Atem beschleunigte sich. Wortlos machte sie ihnen Platz.
Sie traten ein, Phil und Rose voran, und gingen ins Wohnzimmer. Cheryl lotste Mrs Miller am Arm zum Sofa. Cheryl nahm Platz, aber Brenda blieb stehen und ließ sich durch nichts dazu bewegen, sich hinzusetzen. Sie sah Rose und Phil an, als nähme sie sie erst jetzt wirklich wahr.
»Wer …?«
»Ich bin Detective Inspector Brennan, und das ist Detective Sergeant Martin.«
»Ich kenne Sie«, sagte Brenda. »Sie haben damals …« Ihr Mund blieb offen. »Oh Gott, Sie haben – oh nein …«
Die drei Polizisten tauschten einen Blick. Phil nickte. Er würde es übernehmen.
»Mrs Miller – Brenda –, ich muss Ihnen etwas mitteilen.«
Brenda Millers Atem wurde noch schneller, ihre Brust hob und senkte sich hektisch. Ihre Hand fuhr an ihren Hals.
»Wir haben eine Leiche gefunden.«
»Oh Gott … oh Gott …«
»Wir können noch nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich um Julie handelt, aber wir vermuten es.«
Brenda Miller hörte gar nicht zu.
Denn wie ihre Welt, so war auch sie in diesem Augenblick zusammengebrochen.
19 »Tja, das lief wohl ungefähr so gut, wie zu erwarten gewesen war.«
Rose Martin saß auf den Stufen vor der Haustür der Millers und hatte eine Silk Cut zwischen den Lippen. Sie sog tief den Rauch ein, als wolle sie ihre Lungen wieder mit Luft füllen, nachdem sie jemanden beatmet hatte.
Phil schloss die Haustür hinter sich und ließ sich neben ihr nieder.
Sie hatten Brenda Miller aufs Sofa gelegt, wo sie wieder zu sich gekommen war. Cheryl Bland hatte ihr einen Tee gekocht, und Phil hatte ihr so taktvoll wie möglich geschildert, was vorgefallen war. Die ganze Zeit über hatte sie benommen und mit leicht geöffnetem Mund dagesessen, als hätte sie gerade die zwölfte Runde eines
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