Der Staubozean
Einige Sekunden lang war es still. »Gib mir etwas von dem schwarzen Saft«, sagte Murphig schließlich.
»In Ordnung«, entgegnete ich und stand mit bedachter Vorsicht auf. Murphig zitterte nur.
Ich öffnete eine der Flaschen und setzte sie in seiner Reichweite ab. »Ich hole dir einen Tropfer«, sagte ich. Als ich mich unter der Anrichte bückte, hörte ich, wie er nach der Flasche griff. Als ich mich wieder aufrichtete, wischte er sich gerade den Mund ab.
»Hee!« entfuhr es mir. »Sei vorsichtig. Das Zeug ist fast rein - es ist viel stärker, als du es dir vorstellst.«
»Das ist gut!« sagte Murphig laut. »Ich brauche seine Kraft jetzt.« Seine Augen glänzten im Licht der Laterne, eine tödliche Röte war in seine Wangen gestiegen.
»Nicht so laut«, mahnte ich.
Murphig wurde leiser und begann, sehr schnell zu sprechen. »Als ich ein kleiner Junge war und in Ausdauer lebte, habe ich oft zum Ozean hinuntergeblickt und mich gefragt, was wohl unter der Oberfläche ist, und ich habe meinen Vater gefragt, und er hat gesagt: ›Mein Sohn, bete zu Frieden oder Wahrheit, um das Leid deines Mangels an Verständnis zu mindern‹, und das habe ich getan und es hat nicht geholfen. Damals beging ich meine erste Todsünde. Es war am Gedächtnistag, vor fast zehn Jahren. Ich war an den Gedächtnisbanken und lernte die Geschichten von einigen der Toten. Einer der Männer, über den ich etwas lernen mußte, war auf See verschwunden. Das machte mich neugierig, und ich mißbrauchte die Gedächtnisbank. Ich habe sie nach all denjenigen gefragt, die auf See verschwunden sind. Nicht etwa, um ihrer Seele zu gedenken, sondern nur für mich. Und es gab Hunderte. Meistens Sünder. Sünder wie ich.«
»Oh?« unterbrach ich. »Fahr fort!«
»Das war nur der Anfang«, sagte Murphig fiebernd. »Ich habe Geschichte studiert. Ich habe die Geschichte des wahren Glaubens zugunsten anderer Dinge vernachlässigt, mich um die Mysterien gekümmert. Wie das Nebensonnenjahr und die Wolken des St.-Elmo-Feuers. Es gibt Dutzende solcher Dinge. Die treibenden Inseln. Die Dinger, die während der Hungerjahre die Klippen hochgekrochen sind. Dann war da dieses Ding, das in den alten Zeiten auf den Drudenfuß-Inseln angeschwemmt wurde. Sie haben gesagt, es sei eine alte, tote Anemone gewesen, völlig zerschunden und ohne Dorne - aber sie hatte überhaupt keine Stümpfe. Nur vier Säulen wie Finger, riesige Dinger, und einen Daumen und eine Art von knochenlosem Gelenk. Fünfzehn Meter breit. Es war eine Hand, eine riesige Hand.« Murphigs Atem ging schwer. Er preßte noch immer seine Hand gegen die Seite.
»Ich hörte zu beten auf. Auch das war, zu meinem Entsetzen, eine Sünde. Ich dachte, kein Gottesteil würde meinen Ketzereien lauschen. Ich habe alles versucht - ich habe sogar zum Wachstum gebetet, wie es die Rebellen gemacht haben. Das war meine schlimmste Sünde. Ich werde die Schande niemals vergessen. Aber das hat mich nicht aufgehalten. Statt dessen ging ich, aus Eigennutz, zur See. Mit einem fremden Kapitän. Ich wollte forschen, verstehst du? Ich hätte mich geschämt, mit frommen Männern zusammen aufs Meer zu fahren.
Und dann war da die Droge. Eine Zeitlang dachte ich, ein Teil Gottes hätte mir Geistesschärfe verliehen. Aber statt dessen wart ihr das. Du und dein Freund.«
»Das stimmt«, bekannte ich offen. »Das war eine verbrecherische Handlung. Aber damals erschien es uns notwendig.«
»Es war eine Sünde. Du müßtest bestraft werden.«
»Vielleicht«, sagte ich. »Und ohne Zweifel könntest du mir eine Menge Ärger bereiten, indem du meine Handlungen enthüllst. Andererseits hast du gerade einen Mann getötet, also bist du jetzt ebenso verwundbar. Das bringt uns in eine Pattsituation. Ich schlage vor, daß wir der Nachwelt den Richterspruch überlassen. Erkennst du, wieviel einfacher das ist?«
»Dein Hochmut hat dich taub und blind gemacht«, sagte Murphig. »Du weißt nicht, was der Kapitän zu tun beabsichtigt - wenn du seine wahnsinnigen Pläne hörtest, würdest du es wissen. Ich habe viele Male gesündigt, aber noch nie auf diese Weise. Noch nie so, wie er es von mir will. Ich könnte nie tun, was er von mir verlangt - nicht gegen SIE.
Wir haben einen gemeinsamen Feind, wir Nullaquaner und SIE. Das seid ihr, ihr Fremden. Sie brauchen uns, um sich zu verbergen, um sich vor den neugierigen Augen der Menschen zu verstecken. Und wir brauchen sie, um Leute wie dich zu packen, um euch davon abzuhalten, uns zu verändern,
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