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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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hinauf, obwohl der Großmast unter seinem Gewicht bedenklich ächzte.
    Am Morgen des siebten Tages machten wir wieder einen Wal aus. Zu jedermanns Überraschung befahl Desperandum den Männern, ihn zu verfolgen. Sie waren froh darüber; jeder an Bord erstickte an der Langeweile. Desperandum rief mich zu sich. »Ich wußte, daß wir noch einen entdecken«, sagte er ruhig. »Ich brauche diesen Wal für die Wissenschaft, Newhouse. Für Informationen. Für die menschliche Würde. Ich will nicht in Unwissenheit befangen bleiben. Das kann ich nicht zulassen. Ich muß diese Gelegenheit wahrnehmen, dafür setze ich alles aufs Spiel. Sie werden sehen, John.«
    Als wir uns dem Wal näherten, bezog Desperandum selbst eine der Harpunierpositionen, obwohl es gegen alle Traditionen verstieß. »Steuert so nahe an das Ungeheuer heran, wie ihr könnt, Männer!« schrie er uns von seiner Stellung hinter dem Geschütz zu. »Ein Schuß muß reichen.«
    Desperandum rieb die Harpune mit seinem eigenen Blut ein und lud das Geschütz. Der Wal war ungewöhnlich beweglich. Er tauchte ab, ehe wir in Schußweite waren. Desperandum erriet jedoch die Stelle seines Auftauchens mit unheimlicher Genauigkeit - er kam fast unter unserem Bug wieder an die Oberfläche. Der Kapitän zielte bedächtig und feuerte in eine schwache Stelle zwischen zwei gepanzerten Zonen. Der Wal ließ ein blutersticktes Kreischen hören und drückte den Bug der Lunglance mit seinem Schwanz ein. Desperandum hatte mit deutlicher Wirkung getroffen, und das Tier starb in nicht einmal einer Minute.
    Desperandum polterte übers Deck und schrie: »Jetzt, Männer! Holt ihn an Bord, ehe die Haie sich durch seine Haut beißen können! Aber nehmt Schlingen, keine Haken! Ich will keine weiteren Löcher in diesem Wal.«
    Ich hatte mir über die Schlingen schon Gedanken gemacht.
    Ihre Verwendung kostete Zeit und war umständlich. Aber merkwürdigerweise schienen die Haie, die nach knapp fünf Minuten da waren, nicht sonderlich begeistert. Ein Trio von ihnen schwamm neben der Lunglance, gerade außerhalb der Reichweite unserer Walspaten. Sie schienen zuzusehen und abzuwarten.
    Desperandum beachtete sie gar nicht. Sobald der Wal auf Deck war, zog er die Harpune eigenhändig heraus und gab Anordnungen. Das Loch, das die Harpune gerissen hatte, wurde zu einem knapp zwei Meter langen Schlitz an der linken Seite des Tieres erweitert. Die Männer schnitten zwischen zwei Rippen durch das zähe Fleisch und den Knorpel und begannen dann nach den Anweisungen des Kapitäns den Körper des Wals auszuhöhlen. Die Innereien warfen sie zu den verdächtig desinteressierten Haien über Bord.
    Desperandum stürzte sich mit dem Eifer eines absoluten Fanatikers in die Arbeit. Als er seine Ärmel aufrollte, sah ich, daß der lange eitrige Riß auf seinem Arm endlich verheilte.
    Es war eine ermüdende Arbeit, und sie dauerte den ganzen Tag über. Ich grübelte über sie nach, als die übrige Mannschaft sich schlafen gelegt hatte. Nicht nur die Arbeiten, die an dem Wal vorgenommen worden waren, beunruhigten mich. Mehrmals hatte ich gesehen, wie Desperandum sich von der Arbeit entfernt hatte, um sich mit Murphig zu bereden. Murphig konnte natürlich nicht antworten, da er seine Staubmaske trug, aber er schien aufmerksam zuzuhören.
    Die Beobachtung nagte an meinem Gehirn. Ich konnte nicht einschlafen. Ich stand auf, zog mich an und schlich leise die Treppe hinauf, um mir den Wal noch einmal anzusehen.
    Im Sternenlicht über dem Steuerbordrumpf war das Tier nur eine graue Masse. Als ich mich leise zwischen den Schlafzelten bewegte, bemerkte ich den trüben Schein einer Laterne hinter den Schwanzflossen des Ungeheuers. Ich schlich näher heran. Plötzlich hörte ich etwas metallisch auf dem Deck aufschlagen und über die Reling ins Meer rollen. Das Geräusch kam von der anderen Seite des Wals. Still lief ich nach vorn und machte mich im Schatten des Ungeheuers ganz klein. Als ich mich behutsam der Lichtquelle näherte, hörte ich etwas, das mich aufschreckte: den Klang einer richtigen menschlichen Stimme, von keinem Lautsprecher verzerrt.
    »Du wirst mir mehr von dem geben, was in der Flasche war!« Es war Murphigs Stimme. Auf allen vieren kroch ich noch näher, bis ich über die Schwanzflosse des toten Staubwals gucken konnte.
    »Ich werde es nicht kaufen«, sagte Murphig gepreßt und nieste. Er preßte die Staubmaske gegen sein Gesicht und tat einen tiefen Atemzug. Zwischen der Maske und seinem Gesicht war

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