Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
wie man einen Verrückten anstarrt, der schwatzend und tanzend durch die Straßen taumelt.
Draußen drang der Wind mit solcher Heftigkeit auf Gareth ein, dass er sich zunächst nicht einmal bewegen konnte. Schließlich senkte er den Kopf, warf sich dem Sturm entgegen und stieg vorsichtig die Tempeltreppe hinab, die von Graupel und Regen rutschig war. Er hatte beinahe das Treppenende erreicht, als er mit jemandem zusammenstieß, der aus der Gegenrichtung kam.
Beide streckten die Hände aus, um den anderen zu stützen.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Gareth, der über den Zusammenstoß erschrocken war. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht … «
»Gareth!« Der Mann sah Gareth forschend an, konnte ihn aber wegen der Dunkelheit und des Sturms nicht genau sehen. »Ich erkenne deine Stimme. Ja« – der Mann packte Gareth und drehte ihn so herum, dass der Lichtschein einer Fackel, die in dem peitschenden Regen zischte und spuckte, auf sein Gesicht fiel –, »ja, du bist es.«
»Meister E-Evaristo«, stotterte Gareth.
»Genau der Mann, den ich sehen wollte.« Evaristo musste schreien, um sich über den tosenden Wind hinweg verständlich machen zu können. »Seit zwei Tagen habe ich versucht, dich zu erreichen. Hast du denn meine Nachrichten nicht erhalten? Man sollte meinen, du legst es absichtlich darauf an, mir aus dem Weg zu gehen.«
Gareth, der genau das getan hatte, versuchte zu fliehen. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Meister, ich werde gebraucht … «
»Nein«, erwiderte Evaristo und hielt Gareth mit festem Griff. »Jetzt habe ich dich, und ich werde dich nicht mehr loslassen. Komm wieder herein. Was ich zu sagen habe, dauert nur einen Augenblick, und dann kannst du dich wieder auf den Weg machen, obwohl die Götter allein wissen mögen, was dich an einem solchen Abend nach draußen treibt.«
Jetzt noch zu fliehen, hätte zu viel Misstrauen erregt. Gareth blieb nichts weiter übrig, als seinem ehemaligen Lehrer wieder in den Tempel zu folgen. Der Pförtner, der abermals dazu gezwungen war, mit der Tür zu ringen und sich den Elementen auszusetzen, empfing die beiden mit ungnädigen Blicken und Gemurmel.
Evaristo schob Gareth in eine ruhige Nische, dann zog er erst einmal seinen klatschnassen Umhang aus. Gareth hingegen schlang sein Wolltuch fester um sich und sorgte dafür, dass sein Gesicht im Schatten der Kapuze blieb. Inzwischen war ein Abszess auch bis zu seinem Gesicht vorgedrungen. Seine Mitschüler hielten es für einen entzündeten Pickel, aber Gareth fürchtete, dass Evaristo die Wahrheit erraten könnte.
»Was treibt dich an einem solchen Abend noch nach draußen?«, fragte Evaristo vergnügt.
Er hatte sich in den vergangenen acht Jahren wenig verändert, war vielleicht nur ein wenig rundlicher und gemütlicher geworden. Er war ein zufriedener Mann, ein glücklicher Ehemann und Familienvater, und sehr erfreut über seinen weiteren Aufstieg in den Rängen der Magier. Er leitete nun eine Schule für die Söhne reicher Kaufleute, und es ging ihm dabei ausgesprochen gut.
Gareth hatte seine Lüge bei der Hand und wiederholte sie, aber er konnte nicht umhin, sich daran zu erinnern, dass Evaristo in Gareths Kindertagen immer hatte unterscheiden können, ob der Prügelknabe ihm auszuweichen versuchte oder die Wahrheit sprach.
»Ich versuche, der Anforderung nachzukommen, wohltätige Arbeit zu leisten… ich kümmere mich um Kranke… Bettlägerige… koche für sie…«
»Das schwere Leben eines Novizen«, meinte Evaristo lächelnd. »Wie gut ich mich daran erinnern kann! Ich werde dich auch nicht lange von deinen Kochtöpfen fern halten.« Er warf Gareth einen forschenden Blick zu, versuchte, im Schatten etwas zu erkennen. »Wie geht es dir? Du siehst blass aus, als wärest du selbst krank gewesen.«
»Ich bin bei bester Gesundheit«, erwiderte Gareth und zog sich tiefer in den Schatten zurück. »Wie Ihr schon sagtet, die Prüfungen, die ein Novize über sich ergehen lassen muss…«
»Studieren bis in die Nacht hinein. Du brauchst mehr Bewegung an der frischen Luft, und du musst mehr essen. Du bist viel zu dünn.«
»Meister…«, begann Gareth mit einem Hauch von Ungeduld.
»Ich weiß. Du musst weg. Gareth.« Evaristo wurde plötzlich sehr ernst. Er sah sich unruhig um, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren, dann beugte er sich verschwörerisch zu Gareth. »Gareth, was höre ich da? Prinz Dagnarus soll als zukünftiger Paladin nominiert werden?«
Gareth wusste nicht,
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