Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
weilte überhaupt nicht unter all diesen Leuten, er wandelte mit den Göttern. Er nahm die im Tempel zusammengedrängten Zuschauer und die Würdenträger rund um den Altar ebenso wenig wahr wie die Ratten, die im Tempel lebten und davongelaufen waren, als die Menge hereinkam, und die man hin und wieder noch hören (und manchmal spüren) konnte, wenn sie aufgeregt versuchten, ihre Schlupflöcher zu finden.
Seine Ehrengarde führte Helmos zu einem Platz vor dem Altar, einem schlichten Marmortisch, der nun mit einem weißen Tuch aus feinstem Leinen bedeckt war, das Helmos' Mutter im Wochenbett gesäumt hatte, bereits in der Erwartung dieses glorreichen Tages. Als er vor dem Altar stand, streckte Helmos die Hände aus. Er nahm die Hand seines Vaters in die rechte und legte die linke Hand auf das Tuch. Seine Eltern waren in diesem Augenblick beide bei ihm.
Gareths Mutter griff nach der Hand ihres Sohnes und hielt sie fest. Sie weinte lautlos, wie beinahe alle im Amphitheater. Gareths Vater wischte sich die Augen und legte den Arm um Frau und Kind. In diesem Augenblick waren sie mehr eine Familie als je zuvor, und mehr, als sie es jemals danach wieder sein sollten.
König Tamaros senkte überwältigt den Kopf.
Königin Emillia stieß ein lautes Schluchzen aus und griff nach Dagnarus. Er saß kerzengerade da, starr, und weigerte sich, sie anzusehen oder ihre Anwesenheit auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Sein Gesicht wirkte spitz, sein Blick auf seinen Bruder konzentriert. Gareth, der ihn kannte, wusste, dass der Prinz bis tief in die Seele von Neid verzehrt wurde.
Helmos hob den Kopf. Er trat vom Altar zurück.
»Ich bin bereit, Ehrenwertester Hoher Magus«, sagte er.
Zwei Paladine traten vor, zogen das weiße Tuch vom Altar und falteten es ehrfürchtig zusammen. Sie reichten es einem der Magier. Der Hohe Magus setzte sich auf einen Stuhl hinter dem Altar. Zwei Magier brachten eine Rolle aus feinem Pergament mit Stäben aus reinem Gold. Sie breiteten das Pergament vor dem Hohen Magus aus. Außerdem erhielt er einen Pinsel und einen kleinen Krug Lammblut. Er tunkte den Pinsel in den Krug und berührte damit das Pergament. Wenn der Zeitpunkt gekommen war, würde der Hohe Magus von der Präsenz der Götter erfüllt sein und auf das Pergament den Titel schreiben, den Helmos als Paladin annehmen würde, ob es nun Paladin des Rittertums, Paladin der Gerechtigkeit oder ein anderer Titel sein mochte, den die Götter für ihn auswählten.
Der Hohe Magus war nun bereit und sagte: »Lasst das Wunder der Verwandlung beginnen.«
Helmos kniete vor dem Altar nieder. König Tamaros trat vor, legte beide Hände auf den gesenkten Kopf seines Sohnes und rief die Götter an, diesen Mann zu segnen und ihm die Weisheit und die Macht zuzugestehen, die einem Paladin gebührten. Dann fragte Tamaros Helmos, ob er willens sei, sein Leben in den Dienst anderer zu stellen, es wenn nötig sogar zu opfern.
»Wenn es den Göttern gefällt, bin ich das«, erwiderte Helmos.
Tamaros trat vom Altar zurück.
Helmos drehte sich um und stand nun der Menschenmenge gegenüber. Er schaute geradeaus ins raucherfüllte Dunkel des Amphitheaters. Was er in seiner Seele sah, wusste niemand. Er kreuzte die Arme vor der Brust und wartete.
Die Anwesenden schauten in gebannter Faszination zu. Gareth hielt den Atem an aus Angst, dass sogar die kleinste unwillkürliche Bewegung sich irgendwie negativ auswirken könnte. Er hatte Beschreibungen des Wunders gehört, aber nichts hatte ihn auf das vorbereitet, was er nun sehen würde. Wahrscheinlich wäre das ohnehin nicht möglich gewesen.
»Das Wunder der Rüstung beginnt«, verkündete der Hohe Magus.
Helmos verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
»Was ist los?«, flüsterte Gareth erschrocken und rutschte verzweifelt auf der Bank herum, um mehr sehen zu können.
»Seine Füße«, sagte sein Vater mit einer Stimme, die der Sohn nicht erkannte. »Sieh dir seine Füße an, Gareth.«
Helmos' nackte Füße und Beine waren so weiß wie der Marmor des Altars. Oder genauer gesagt, sie
waren
Marmor. Sie verwandelten sich in Stein.
Ein Schaudern durchlief den Jungen. »Es bringt ihn um!«, wimmerte er.
»Nein«, erwiderte sein Vater. »Genau das ist ja das Wunder.«
»Sieh nicht hin, Gareth!«, zischte seine Mutter drängend. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, aber er bemerkte, dass sie zwischen ihren Fingern hindurchspähte.
Gareth hätte nur zu gerne die Augen geschlossen, denn es war schrecklich, Zeuge
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