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Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter

Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter

Titel: Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Weis
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spöttisch hinzu, »wozu soll ein Tor mitten im See gut sein? Die Hälfte der Reisenden wird ertrinken, bevor sie es betreten können.«
    Nun trat die Frau in den Kreis der Lauschenden. Sie hieß Ranessa, ein Geburtsname, obwohl sie schon Mitte Zwanzig war. Sie war die Schwester von Rabenschwinge und damit Jessans Tante. Die in ihrer Nähe betrachteten sie misstrauisch und wichen ein wenig von ihr zurück, damit sie sie nicht zufällig berührten. Sie sah nicht übel aus oder hätte zumindest nicht übel ausgesehen, wenn sie sich um ihr Aussehen gekümmert hätte. Ihr langes, dickes, dunkles Haar war ungekämmt, hing ihr zerzaust um den Kopf und ins Gesicht. Ihre Brauen waren schwarz und dicht und bildeten eine gerade Linie über ihrer Stirn, was ihr eine strenge und ernste Miene verlieh. Ihre Augen hatten einen seltsamen Braunton mit rötlichen Einsprengseln. Ihre Haut war weiß wie Alabaster – ein heftiger Kontrast zu den sonnengebräunten Trevinici.
    Ranessa sah ihrem älteren Bruder kein bisschen ähnlich, und an zivilisierteren Orten hätte es Geflüster über ihren Vater gegeben. Solche Zweifel tauchten allerdings bei den Trevinici nie auf, denn das hätte die Ehre der Familie beleidigt. Manchmal geschahen solche Dinge eben, wie auch Kinder mit Muttermalen oder verrenkten Gliedern geboren wurden. Die Götter hatten ihre Gründe dafür, Gründe, die sie den Menschen nicht mitteilten. Ranessa wurde nicht deshalb gemieden, weil sie anders aussah oder weil sie eine scharfe Zunge hatte oder übellaunig war. Sie wurde gemieden, weil das Dorf eines Morgens aufgewacht war und das neunjährige Mädchen schlafend mitten im heiligen Kreis gefunden hatte.
    Wenn man Ranessa glauben durfte, war sie aus einem Traum erwacht, in dem sie wie ein Vogel durch den Himmel geflogen war. Der Traum hatte sich sehr lebendig angefühlt und war wunderschön gewesen, und als sie aufwachte, hatte sie geweint, weil es nur ein Traum gewesen war. In der Hoffnung, wirklich fliegen zu können, hatte sie das Haus ihrer Eltern verlassen und war zu dem Heilerhaus gegangen, das in der Nähe des heiligen Zirkels stand. Sie war aufs Dach gestiegen, hatte die Arme ausgebreitet und war in die Luft gesprungen. Sie war flach auf dem Bauch im Steinkreis gelandet. Der Sturz war schmerzhaft gewesen und hatte ihr den Atem aus den Lungen gedrückt. Aber das Schlimmste war zu wissen, dass ihr Traum eine Lüge gewesen war. Sie hatte bitterlich zu jammern begonnen, keinen Augenblick darüber nachgedacht, wo sie war, und sich schließlich in den Schlaf geweint.
    Einige im Dorf hatten sie töten wollen, aber nachdem die Ältesten ihre Geschichte gehört hatten, hatte man sie für verrückt erklärt. Niemand im Dorf durfte ihr Schaden zufügen, aber von diesem Tag an wurde sie von allen gemieden.
    Nun starrten die Ältesten sie verärgert und nervös an. Jessan und sein Onkel wechselten einen Blick. Sie waren für Ranessa verantwortlich.
    »Du solltest nicht draußen in der Sonne sein, Ranessa«, sagte Rabe freundlich und nahm sie an der Hand. »Ich bringe dich zurück zu deinem Haus.«
    Ranessa lebte allein. Sie war nach dem Tod ihres Vaters aus dem Haus ihrer Eltern ausgezogen. Ihr Bruder hatte ihr einen Platz in seinem Haus angeboten, aber sie hatte sich verächtlich geweigert, und so hatte er ihr ein eigenes Haus gebaut. Dort lebte sie allein und verließ die Behausung nur, um lange Spaziergänge zu unternehmen, die ziellos schienen und manchmal Tage dauerten. Sie kehrte immer halb verhungert und gereizt zurück, mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen, als wüsste sie genau, dass viele gehofft hatten, sie würde diesmal für immer wegbleiben, und nun von ihrer Rückkehr enttäuscht wären.
    »Ich gehe, wohin ich will, Rabe«, sagte sie und entzog ihm ihre Hand. »Ich will hören, was mein Neffe zu erzählen hat.« Sie verzog spöttisch den Mund. »Und sei es nur aus dem Grund, weil es eine willkommene Abwechslung von der elenden Monotonie dieses Dorfs bietet.«
    Jessan fuhr mit seiner Geschichte fort und tat sein Bestes, alle anderen anzuschauen, nur nicht seine verrückte Tante. Unter dem Blick ihrer seltsamen Augen war er stets verlegen, und so fiel die Geschichte seiner ersten Begegnung mit Gustav ein wenig wirr aus. Aber als er zur Schilderung des Kampfes kam, vergaß er Ranessa, vergaß seinen Onkel, vergaß die Ältesten. Er erlebte noch einmal diese ruhmreichen Momente, und er beschrieb die Szenen mit der Aufmerksamkeit für Einzelheiten, die nur

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