Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
Vrykyl greifen selten mächtige Wesen an, denn diese neigen dazu, willensstark zu sein. Die Ausnahme von dieser Regel bildeten jene, die die Macht nur geerbt hatten, wie zum Beispiel der derzeitige König von Dunkarga.
Shakur hatte auch daran gedacht, den König zu töten. Aber Moross war als Mann bekannt, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängte, während der Hohe Magus die wahre Macht hinter dem Thron ausübte. Also hatte Shakur sich dazu entschlossen, den Hohen Magus zu töten. Und diese Wahl hatte sich als gut erwiesen. Shakurs giftige Worte hatten den armen König so mit Schrecken erfüllt, dass der Mann sich inzwischen vor seinem eigenen Schatten fürchtete.
An dem Abend, als Rabe sich zu seiner Reise aufmachte, ging der hohe Magus durch die Flure des stillen Tempels. Seine Bewohner schliefen friedlich und ahnten nicht, dass ein Wesen, das selbst ihre schönsten Träume in Alpträume verwandeln würde, sich ganz in der Nähe befand.
Shakur betrat seine eigenen Gemächer, durchquerte seine Privatbibliothek und sein Wohnzimmer und verschloss die Türen hinter sich. Als er im Schlafzimmer angelangt war, schloss er auch diese Tür ab. Er hatte keine sonderliche Angst, entdeckt zu werden. Der Hohe Magus hatte nicht viele Freunde, und niemand würde je daran denken, ihn in diesem Zimmer aufzusuchen, um ein nettes mitternächtliches Schwätzchen über die Ereignisse des Tages zu halten. Aber Shakur wollte keine Risiken eingehen. Weder im Leben noch im Tod.
Kaum hatte der Vrykyl sich davon überzeugt, dass er auch wirklich allein und unbeobachtet war, als auch schon aus dem Dunkeln eine körperlose Stimme erklang.
»Das wurde aber auch Zeit«, sagte die Stimme kalt. »Ich habe jetzt schon drei Stunden gewartet, und du weißt, dass ich nicht geduldig bin.«
Shakur kannte diese Stimme, kannte sie so gut, wie andere den Klang ihres eigenen Herzschlags kennen. Shakur hatte kein Herz mehr, das schlug, aber er hatte diese Stimme.
Er drehte sich langsam um und versuchte eilig, seine Gedanken zu ordnen, bevor er den Sprecher ansah. Er verbeugte sich tief.
»Herr«, sagte er demütig. »Verzeiht mir, aber ich wusste nicht, dass Ihr eingetroffen wart. Hättet Ihr mich informiert – «
»Dann wärst du ›auf den Flügeln der Liebe an meine Seite geeilt‹« sagte Dagnarus. »Sind das nicht die Worte des Poeten? Nur dass es in deinem Fall die Flügel des Hasses gewesen wären, nicht wahr, alter Freund?«
Shakur schwieg, und er ließ auch seine Gedanken schweigen. Dagnarus, Lord der Leere, war der Herr und Schöpfer der Vrykyl. Er besaß den Dolch der Vrykyl, ein mächtiges Artefakt der Leere. Vor zweihundert Jahren hatte Dagnarus diesen Dolch benutzt, um Shakurs Leben ein Ende zu bereiten und ihn in das schreckliche Wesen zu verwandeln, das er heute war. Es stimmte, Shakur hatte ein elendes Leben geführt. Es gab kein einziges Gesetz irgendeiner zivilisierten Nation, das er nicht gebrochen hatte, beginnend mit Muttermord. Er hatte sich freiwillig der Leere überantwortet, und so hatte Dagnarus ihn für sich gewonnen.
Dagnarus stand auf. Er trug die schreckliche, schwarze Rüstung des Lords der Leere, eine Rüstung, die das direkte Gegenteil der gesegneten Rüstung eines Paladins darstellte. Auch Dagnarus' Rüstung war gesegnet, aber nicht von den Göttern. Seine Rüstung kam von der Leere. Das schwarze Metall war biegsam und lag auf Dagnarus' Haut wie eine Ölschicht.
Den Helm, der einem Tierkopf nachgebildet und schrecklich anzuschauen war, trug er nicht. Er brauchte sein Gesicht nicht zu verbergen. Anders als die Vrykyl, diese lebenden Toten, war Dagnarus immer noch ein lebendiger Mensch. Er war ein gut aussehender junger Mann gewesen, als er sich der Leere ergab, und mit ihrer Hilfe hatte er nach Außen hin diese Gestalt bewahren können. Sein Haar war dicht und rötlich braun. Er trug es lang und im Nacken zusammengebunden wie Elfenkrieger. Er sah auf eine etwas schurkenhafte Art gut aus und konnte sehr liebenswert sein, wenn er es denn wollte.
Vor zweihundert Jahren war Dagnarus Prinz von Vinnengael gewesen. Sein Bruder Helmos herrschte als König. Der Stein der Könige war von den Göttern ihrem Vater, König Tamaros, übergeben worden. Obwohl die Götter Tamaros gewarnt hatten, dass er den Stein noch nicht vollkommen begriff, hatte Tamaros sich dazu entschlossen, ihn zu benutzen, um Frieden zwischen den Völkern zu stiften. Er hatte den Stein in vier Teile geteilt, und das hatte schreckliche Folgen gehabt.
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