Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
sie jetzt zugeben. Ulaf hatte sich auf die Suche nach den Pecwae gemacht und war dabei vielleicht selbst in Gefahr geraten. Sie konnte nicht warten. Shadamehrs Verfall war zu weit fortgeschritten.
Alise schob die Laterne zurecht, dann griff sie in eine Geheimtasche, die sie in ihr Kleid genäht hatte, und holte ein kleines, schmales Buch in unauffällig grauem Ledereinband heraus. Das Buch wirkte von außen ganz harmlos. Selbst wenn man es öffnete, musste man ein Schüler der Magie sein, um zu erkennen, dass dieses kleine Buch ein Leben wert war. Wenn die Kirche Alise mit diesem Buch verbotener Bannsprüche entdeckte, würde man sie zum Tode verurteilen.
Schon während sie die Seiten umblätterte, konnte Alise spüren, wie die schauerliche Magie begann, unter ihre Haut zu kriechen.
Sie las den Zauberspruch durch und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie war gezwungen, die Hand auf den Mund zu drücken, damit sie sich nicht übergeben musste. Schon die Worte im Geist zu wiederholen, bewirkte, dass ihr übel wurde, und machte sie so schwach und schwindelig, dass sie kaum bei der Sache zu bleiben vermochte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie widerwärtig und schmerzhaft es sein würde, sie auszusprechen. Alise beugte sich vor und küsste Shadamehr sanft und zärtlich auf die Lippen. Sie griff nach seiner Hand, drückte sie an ihre Brust und begann, die schrecklichen, von Maden zerfressenen Worte laut auszusprechen.
Die ursprüngliche Schänke zur Molligen Mieze war ein berühmtes Lokal in Alt-Vinnengael gewesen. Noch zweihundert Jahre später erzählten sich die Leute Geschichten von diesem Gasthaus, seinem fetten Besitzer und der noch fetteren roten Katze, die der Schänke den Namen gegeben hatte. Die Geschichten waren beinahe so etwas wie Überlieferungen geworden, und beinahe jedes Lied, das ein Bänkelsänger über Helden aus längst vergangenen Zeiten sang, begann mit einer bedeutsamen Begegnung in der Molligen Mieze.
Als die Stadt Neu-Vinnengael noch im Planungsstadium war, kam es zu einer Schlägerei zwischen mehreren MöchtegernKneipenwirten, die ihr Lokal nach der legendären Schänke benennen wollten. Schließlich erklärte einer der Streithähne, er könne beweisen, der Nachfahre des berüchtigten fetten Besitzers zu sein, und er besaß sogar eine fette Katze, von welcher er behauptete, sie sei die Nachfahrin der berüchtigten roten Katze. Seine Beweise wurden akzeptiert. An dem Tag, als der König in der neu errichteten Stadt Neu-Vinnengael in seinen Palast einzog, eröffnete der Wirt die Mollige Mieze Nummer zwei. Danach war die Schänke in der Familie geblieben, und nun wurde sie von einem Nachfahren des ursprünglichen Besitzers betrieben. Eine Nachfahrin der roten Katze schlief tagsüber in der Sonne und trieb sich nachts im Schankraum herum.
Das Lokal war bei den Mitgliedern der Shadamehr-Familie immer beliebt gewesen, und ein Vorfahr des derzeitigen Barons hatte vor Jahren insgeheim dem damaligen Wirt aus seinen Geldnöten geholfen. Das Gasthaus verfügte über eine Hintertür, die zu einer sehr dunklen Gasse führte, die ihrerseits von einer leicht zu erkletternden Mauer begrenzt war, außerdem eine andere Tür, die zum Dach führte, von dem aus gesehen andere Dächer in Sprungweite lagen. Da die Shadamehrs – ein exzentrischer und unabhängiger Haufen – unermüdlich im Dienst der Schwachen und Unterdrückten kämpften, neigten sie dazu, die Starken, Mächtigen gegen sich aufzubringen, die ihrerseits alles andere als erfreut über solche Einmischung waren und immer wieder versuchten, die Barone und ihre Leute aufzuhalten, was bedeutete, dass solche Möglichkeiten zu eiliger Flucht im Lauf der Jahre einer ganzen Reihe von Shadamehrs sehr willkommen gewesen waren. Ulaf kannte das Lokal recht gut und hielt es für einen hervorragenden Ort, um sich mit den Leuten zu treffen, die ihn darüber informierten, was in der Welt vorging. Die Schänke war auch der Ort, an dem Shadamehrs Leute sich sammelten, wenn es Ärger gab.
Nachdem er die Pecwae gefunden hatte, geleitete Ulaf sie daher zur Molligen Mieze, und zwar so schnell wie möglich, wobei er stets wachsam nach den Patrouillen Ausschau hielt. Die Glocken für die Sperrstunde erklangen gerade, als er in die Straße einbog, an der das Gasthaus lag.
Die Straßen waren überwiegend leer. Die Patrouillen waren schon auf dem Weg und suchten nach allen, die die Sperrstunde missachteten. Sie suchten auch nach Baron Shadamehr, aber das konnte
Weitere Kostenlose Bücher