Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
hinaufstarrte, als könnte sie es kaum erwarten, bei ihnen zu sein.
»Du wirst mir fehlen, Mädchen«, sagte er. »Ich wünschte, du würdest mit mir kommen.«
»Ich habe eine Verpflichtung.« Sie warf einen Blick auf Jessan. »Sie waren gut zu mir. Ich habe nicht viel getan, um das zu verdienen.«
»Es war nicht deine Schuld.«
Ranessa lächelte dünn. »Selbst als Drache hätte ich wohl freundlicher sein können. Dennoch« – sie zuckte mit den Schultern – »was geschehen ist, ist geschehen. Ich werde sie in ihr Land bringen und ihnen dabei helfen, ihre Leute zu finden. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
»Wohin wirst du danach gehen?«, fragte Wolfram mit einem Ziehen im Herzen.
»Ich muss eine Weile allein sein«, antwortete Ranessa. »Vielleicht eine lange Weile. Drachen sind Einzelgänger, Wolfram.«
»Zwerge ebenfalls«, antwortete er. »Zumindest einige.«
»Dann komm und suche mich eines Tages«, sagte Ranessa mit einem plötzlichen strahlenden Lächeln. »Wir werden zusammen Einzelgänger sein.«
»Das werde ich tun«, versprach er.
Ranessa beugte sich vor und drückte Wolfram rasch einen Kuss auf die Wange, einen Kuss, der brannte wie die Berührung einer Flamme. Dann wandte sie sich von ihm ab, breitete die Arme aus und warf den Kopf zurück. Ein Ausdruck der Freude trat auf ihr Gesicht, und das Drachengesicht, die Drachenflügel, der Drachenkörper schimmerten im Mondlicht.
»Beeil dich, Neffe!«, befahl sie. »Der Mond wird schon bald untergehen.«
Jessan fing an, den Kokon mit dem Pecwae auf den stacheligen Kamm zu schnallen.
»Das mit Bashae tut mir Leid«, sagte Wolfram.
»Er ist als Held gestorben«, erklärte Jessan. »Nicht viele Pecwae können das von sich behaupten.«
Nein, dachte Wolfram. Und ich wette, die meisten wollen es auch gar nicht. Aber er schwieg weiterhin höflich.
»Meine Leute werden sich gut um das Zwergenkind kümmern«, sagte Jessan leise. »Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht von Pecwae aufgezogen wird.«
»Danke«, sagte Wolfram und verbarg sein Lächeln. »Es war schön, dich wieder zu sehen, Jessan. Oder vielleicht sollte ich dich jetzt ja nicht mehr so ansprechen. Hast du deinen Erwachsenennamen gefunden?«
»Das müssen die Ältesten entscheiden«, sagte Jessan. »Aber ja, ich habe ihn gefunden.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er traurig hinzu: »Es war nicht, was ich erwartet hatte.«
»Das ist es nie«, sagte Wolfram.
Jessan nickte. Er hob die Großmutter auf den Drachenrücken und Fenella neben sie. Dann stieg er selbst auf und ließ sich zwischen Ranessas Flügeln nieder.
Er legte einen starken Arm schützend um die Großmutter und Fenella und packte mit der anderen Hand den Drachenkamm. »Wir sind bereit …« Er hielt inne, schaute zurück zu dem Zwerg und lächelte kläglich. »Wir sind bereit, Tante Ranessa.«
Der Drache breitete die Flügel aus, spannte die kräftigen Hinterbeine an und sprang in die Luft.
»Lebe wohl, Wolfram«, rief Ranessa, als sie auf die Sterne zuflatterte.
»Auf Wiedersehen, Mädchen«, sagte Wolfram leise.
Shadamehr fühlte sich, als wäre er wieder ein Kind, das in seiner Wiege in den Schlaf geschaukelt wird. Es hätte ihm gefallen, aber aus einem seltsamen Grund goss seine Mutter immer wieder kaltes Wasser in die Wiege, Wasser, das hin und her schwappte. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, deckte sie ihn auch noch mit einer Decke zu, welche aus Fisch bestand.
Er versuchte mehrmals, sich über diese Behandlung zu beschweren, und manchmal gelang es ihm auch. Er wachte gerade lange genug auf, um ein paar Schlucke Wasser zu trinken, die nach Fisch schmeckten, Fisch zu essen, der nach Fisch schmeckte, und wenn er dann glaubte, wach genug zu sein, um alles auseinander sortieren zu können, schlief er am Boden der nassen Wiege wieder ein.
Shadamehr hatte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Tage gingen verschwommen in Nächte über und wieder in Tage. Er schlief traumlos und friedlich, wenn man einmal von dem schwappenden Wasser und dem Geruch nach Fisch absah. Niemand tat ihm weh. Tatsächlich passten sie sogar gut auf ihn auf. Genau wie seine Mutter. Dennoch spürte er, wie er diese Behandlung immer mehr ablehnte, und eines Tages, als man ihn aus der Wiege holte und an Land trug, starrte Shadamehr einen Becher Wasser, den sie ihm in die Hand drückten, einen Augenblick lang an und warf ihn dann weg.
»Nein«, murmelte er immer noch halb betäubt. »Das mache ich nicht mehr
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