Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
jedenfalls gesagt. Vorzeichen logen nicht, aber manchmal sagten sie auch nicht die ganze Wahrheit.
»Bist du hier, Herr?«, sprach Valura lautlos Dagnarus an. »Bist du bereit? Ich bringe dir das Geschenk, das du schon so lange haben wolltest. Sie folgen mir wie Schafe, unwissend und vertrauensvoll. Es wird leicht sein, sie zu überraschen. Sag mir, dass du hier bist, Herr. Sag mir, dass du hier bist und auf mich wartest.«
Aber sie vernahm keine Antwort, nur das Rauschen und Tosen des Wassers, das über die Klippen stürzte.
Der Aufstieg war lange und anstrengend und der Stein so glatt und gefährlich, dass sie stellenweise auf allen vieren kriechen mussten. Ihre Hände und Knie waren bald schon aufgeschürft und verkratzt, ihre Kleidung klatschnass, zerrissen und von Schleim bedeckt. Sie hielten sich vom Rand der Rampe fern, damit sie nicht wegen eines einzelnen Fehltritts herunterstürzen würden. An einer Stelle rutschte Shadamehr ab und halb die Rampe hinunter, bevor er sich fangen konnte. An einer anderen kamen sie zu einem Riss in der Rampe, der so weit war, dass Wolfram mit seinen kurzen Beinen nicht darüber springen konnte. Der Kapitän packte den Zwerg. Sie holte mit den langen Armen Schwung und warf den erschrockenen Wolfram hinüber. Er landete mit einem Krachen auf der anderen Seite, atemlos vom Aufprall.
Während sie weiterkletterten, wurde das Gefühl drohenden Unheils immer stärker, und es war dunkler als selbst der Nebel.
»Was hast du gesagt?« Wolfram drehte sich zum Kapitän um.
»Ich? Ich habe gar nichts gesagt«, erwiderte die Orkfrau. »Ich brauche meinen Atem für wichtigere Dinge – Atmen zum Beispiel.«
»Du hast etwas gesagt«, sagte Wolfram anklagend. »Das habe ich ganz genau gehört.«
Der Kapitän schüttelte den Kopf und kletterte weiter.
»Was ist denn?«, fragte Shadamehr erschrocken und fuhr zu Damra herum.
»Was soll sein?« Sie starrte ihn verwirrt an.
»Ihr habt mich am Arm gepackt«, sagte er. »Ich dachte, Ihr wolltet etwas von mir.«
»Ich habe Euch nicht angefasst«, entgegnete Damra. Sie klammerte sich mit beiden Händen an einen Stein, der aus der Steilwand ragte. »Ich wage es nicht, diesen Halt loszulassen. Wenn ich das täte, könntet ihr mich da unten wieder auflesen.«
»Etwas hat mich berührt«, beharrte Shadamehr.
»Und ich habe eine Stimme gehört«, sagte Wolfram.
Dann hörten sie alle die Stimmen, unklar und aus weiter Ferne, Echos von Schreien, die Jahrhunderte zuvor erklungen waren. Sie spürten die Hände, unsichtbare Finger, welche sich an sie klammerten, drückten, zwickten. Sie begannen, Dinge zu sehen – es war, als ob man etwas aus dem Augenwinkel bemerkte, das dann verschwunden ist, wenn man es direkt anschauen will.
»Lass mich los!«, rief Wolfram und schlug nach etwas.
Er verlor das Gleichgewicht und wäre in einen Riss gefallen, wenn der Kapitän ihn nicht am Gürtel gepackt und zurückgezerrt hätte. Sie befanden sich nahe dem Rand der Klippe. Der Weg war hier steiler und gefährlicher, denn Teile der Rampe waren unter Gerölllawinen begraben. Der Nebel wurde dichter. Sie konnten das Tal nicht mehr sehen und auch nichts, was über ihnen lag. Sie schienen im Nichts zu hängen.
Es war schwer, sich zu bewegen, schwer, weiterzumachen. Unsichtbare Körper stießen gegen sie, drängten und stießen. Ich halte das nicht viel länger aus, erkannte Shadamehr und rang nach Atem. Er schauderte vor Kälte; Schweiß stand ihm auf der Stirn und lief ihm in den Nacken. Er rutschte bei jedem Schritt vorwärts zwei Schritte zurück. Dann stieß etwas gegen ihn und warf ihn um. Er fiel mit Händen und Knien auf den regenglatten Stein. Die Menschenmenge drängte sich gegen ihn. Sie trugen ihn über den Rand der Klippe …
Hört auf!, flehte Damra lautlos.
Ihre Stimmen klirrten in ihren Ohren, alle von Schrecken und Schmerzen erfüllt.
Bitte hört auf! Ich kann euch nicht helfen! Sie drückte sich gegen die Wand und schrie ihnen zu, sie sollten aufhören.
Der Kapitän kämpfte weiter, dann wurde sie von einer unsichtbaren Kraft gegen die Klippe geschmettert und dort festgehalten. Stimmen kreischten und heulten, sodass sie glaubte, den Verstand zu verlieren oder taub zu werden. Fäuste schlugen auf sie ein, Füße traten sie.
Valura, die sich innerhalb der Leere bewegte, konnte sehen, was die anderen nicht sahen. Sie erblickte die schreienden Münder und die vor Schreck weit aufgerissenen Augen, die geballten Fäuste und die blutigen Hände.
Weitere Kostenlose Bücher