Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
häufig verachteten Dingen mit einer Sehnsucht zu, die aus tiefstem Herzen kam.
Er erinnerte sich sogar voller Mitgefühl an seine verrückte Tante Ranessa. Er wünschte sich jetzt, ihr gegenüber freundlicher und verständnisvoller gewesen zu sein. Sie war immerhin eine Verwandte und gehörte zum Stamm, und das bedeutete, dass ihr Wohlergehen ihm wichtig sein sollte, eine heilige Pflicht, so wie es eine heilige Pflicht gewesen war, Bashae zu beschützen.
Jessan gab sich keine Schuld an Bashaes Tod. Sein Gewissen war rein. Er hatte alles getan, was er konnte, um seinen Freund zu beschützen und ihn vor dem Vrykyl zu retten. Wie er selbst schon gesagt hatte: Sich die Schuld zu geben hätte Bashaes Verdienst verringert. Der Pecwae hätte den Stein der Könige fallen lassen und fliehen können, aber er hatte sich dafür entschieden, darum zu kämpfen, und all seine Instinkte beiseite geschoben, um mutig die Arbeit zu beenden, welche die Götter ihm aufgetragen hatten.
»Ich bewundere deinen Mut, Bashae«, sagte Jessan leise. »Aber ein Teil von mir wünscht sich auch, du wärest tatsächlich weggerannt. Dieser Teil ist zornig, weil du es nicht getan hast. Du hast mich hier allein und ohne einen Freund zurückgelassen. Es tut mir Leid, dass ich so schwach bin. Ich hoffe, du verstehst mich.«
»Das tut er«, sagte die Großmutter. »Er ist nun an einem Ort, wo er alles versteht.«
Die Zeit schleppte sich ermüdend langsam dahin. Jessan starrte ins Feuer und vollzog in Gedanken noch einmal jeden Schritt dieser bemerkenswerten Reise nach, die ihn in fremde Länder gebracht hatte, wo er einem Drachenbauer, der Tochter der Königin von Nimorea, einem elfischen Paladin und einem verrückten Baron begegnet war.
Er dachte gerade darüber nach, wie sehr ihn all diese Begegnungen beeinflusst hatten, als er das leise Quietschen der Türangeln hörte. Rasch fuhr er herum und tastete nach der Waffe, die er nicht mehr hatte. Als er das graue Licht draußen sah, wusste er, dass die Dämmerung nahe war.
»Ich bin's nur«, sagte Ulaf leise.
Er schlich auf Zehenspitzen herein, denn er wollte Maudie nicht wecken.
»Ich habe die meisten unserer Leute gefunden«, erklärte er. »Und für die anderen habe ich Nachrichten hinterlassen. Sie werden uns unterwegs einholen. Ich habe die Pferde – meins und die von Alise und Shadamehr. Er wird es uns niemals verzeihen, wenn ich sein Pferd hier lasse und es von den Taan gefressen wird. Bist du bereit?«
Er warf einen Blick zur Leiche des Pecwae, die ruhig und mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen dort vor dem Feuer lag. Wenn Bashaes Haut nicht so bläulich bleich gewesen wäre, hätte man glauben können, dass er schlief.
»Wir sollten die Leiche irgendwie einpacken«, schlug Ulaf vor. »Ansonsten…« Er schwieg und wusste nicht, was er sagen sollte.
Jessan warf der Großmutter, die sich von ihren Gedanken losriss, einen Blick zu. Sie stand auf und strich ihren Rock glatt, was die Glöckchen leise klingen ließ. Dann schloss sie die Augen und fing an zu singen.
Sie sang ein uraltes Lied, das den Pecwae zu einer Zeit beigebracht worden war, als die Elfen noch neugeborene Geschöpfe waren, die mit staunenden Augen über den Kontinent wanderten, einer Zeit, als die Orks gerade erst ihre Brüder, die im riesigen Ozean schwimmen, verlassen hatten, um an Land zu leben, einer Zeit, als die jungen Zwerge noch im Gras mit Wolfswelpen spielten und die Menschen ihre Magie benutzten, um Steine aus dem Boden zu reißen und daraus Werkzeuge zu formen.
Während die Großmutter sang, breitete sie die Arme aus. Seidenfäden gingen von ihren Fingern aus. Diese Fäden wickelten sich um Bashae und spannen einen Kokon um seine Leiche. Hin und wieder, bei bestimmten Stellen des Lieds, riss die Großmutter einen Stein von ihrem Rock und warf ihn zwischen die wirbelnden Fäden. Als sie mit dem Lied begonnen hatte, hatte sie geweint, aber das uralte Mantra, welches die Seele der Toten schnell auf ihre Reise in die Schlafwelt schickte, tröstete auch die Lebenden. Mit dem Ende des Lieds versiegten auch die Tränen.
»Wir können gehen«, sagte die Großmutter zu Ulaf. Ihre Augen waren trocken, und ihr Kinn bebte nicht mehr. »Seine Seele ist gegangen, und der Kokon wird seinen Körper sicher umhüllen, bis wir ihn in die Grabkammer im Hügelgrab legen können.«
»Ich habe die Kriegerwache gehalten«, fügte Jessan hinzu. »Ich habe Bashae all den gefallenen Helden unseres Stamms vorgestellt und
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