Der Stein der Wikinger
ihren Schrei hörte, war dem Untergang geweiht.
Ayasha zog ihr Wildlederkleid an und schlüpfte in ihre Mokassins. Vorsichtig, damit ihre Eltern und ihre anderen Verwandten sie nicht hörten, stieg sie über die schlafende Mutter hinweg und verließ den Wigwam. Geduckt huschte sie in den Schatten der Bäume. Jenseits des Flusses, an dessen Ufer die Waldleute ihr Lager errichtet hatten, zog bereits der Morgen herauf. Feuchtigkeit wehte vom großen Wasser im Südosten herüber.
Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges zu bemerken. Bis auf einige Frauen, die mit ihren Behältern aus Birkenrinde zum Flussufer gingen, um Wasser zu schöpfen, schlief das Dorf. Anscheinend hatte niemand außer ihr die Eule gehört, ein schlechtes Vorzeichen, das ihr den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Ayasha hatte achtzehn Winter gesehen, war jetzt in einem Alter, in dem die meisten Mädchen schon verheiratet waren. Es mangelte nicht an jungen Männern, die ihr den Hof machten. Beinahe jeden Abend spielte ein Krieger vor ihrem Wigwam auf der Knochenflöte. Doch bisher hatte sie noch nicht daran gedacht sich fest zu binden. Aus einem Grund, den sie selbst nicht kannte, hatte keine der Melodien ihr Herz berührt. »Willst du ewig warten, meine Tochter?«, fragte ihre Mutter manchmal. »Du weißt doch, wie wichtig es ist, einen Mann zu haben. Wer versorgt dich mit Wild, wenn du allein bist? Wer bringt die Fische? Wer schenkt dir Kinder?«
Aus einem der Wigwams drang Babygeschrei. Die sanfte Stimme der Mutter erklang und ließ es verstummen. Irgendwo bellte ein Hund. Ein älterer Mann stolperte aus seinem Wigwam und humpelte zum Fluss hinunter, um sich zu waschen. Das Dorf erwachte langsam, so wie an jedem Morgen. Die beste Zeit für einen feindlichen Angriff, wie Ayasha wusste. In den Geschichten, die am abendlichen Feuer die Runde machten, erzählten die erfahrenen Krieger oft davon, wie sie ein Dorf der Feinde im Morgengrauen überfallen hatten. Morgens waren die Bewohner am unaufmerksamsten, selbst die Wachposten hielten nicht mehr so angestrengt Ausschau oder ließen sich von der Unruhe vor den Hütten anstecken. Waren im letzten Sommer nicht zahlreiche Waldleute gestorben, als die Feinde sie im Morgengrauen überrascht hatten?
Ayasha lief geduckt am Waldrand entlang, wie ein erfahrener Jäger, der ein Wild verfolgte. Mit dem Unterschied, dass sie keine Waffe mitgenommen hatte. Ihr Vater, ihre Onkel und Brüder sahen es nicht gerne, wenn eine Frau zu einer Kriegsaxt oder einem Messer griff, es sei denn, um eine Tierhaut zu schaben. Sie folgte dem Fluss nach Südosten, in die Richtung, aus welcher der zweite Eulenschrei erklungen war. Alle paar Schritte blieb sie stehen und spähte aufmerksam umher, um nicht in eine Falle zu laufen. Sie schwebte in tödlicher Gefahr, dessen war sie sich sicher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die bösen Manitous zeigten.
Ungefähr zwanzig Schritte vom Ufer des großen Sees entfernt, der sich abseits des Dorfes zwischen den bewaldeten Hügeln erstreckte, blieb sie erneut stehen. Die Eule war nicht zu sehen, war wohl in ihr Nest zurückgekehrt, um den Tag zu verschlafen. Ayasha kniff ihre Augen zusammen, um besser gegen die aufgehende Sonne sehen zu können, und erkannte einige Gestalten. Sie bewegten sich dicht am Ufer entlang, tauchten gleich darauf im Schatten der überhängenden Bäume unter. Böse Geister? Feindliche Krieger? Oder doch nur Trugbilder, die ihr die aufgehende Sonne und der neblige Dunst vorspielten?
Sie drehte sich um, suchte nach einem der Späher, die jeden Morgen das Lager umkreisten und nach Feinden suchten, doch keiner der jungen Krieger war zu sehen. Der See und der Fluss lagen scheinbar friedlich unter dem leicht bewölkten Himmel. Dennoch blieb die bedrohliche Stimmung, lag wie eine unsichtbare Wolke über dem Land und sank immer tiefer herab, drohte es mit ihrer Last zu ersticken. Ayasha wagte kaum noch zu atmen, und als in die angespannte Stille erneut der unheimliche Ruf einer Eule drang, hätte sie vor Angst und Erschrecken beinahe laut geschrien.
Im gleichen Augenblick erfüllten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Aus dem Nebel, der wogend über der leicht gekräuselten Oberfläche des Sees hing, tauchten unzählige Kanus mit feindlichen Kriegern auf, als hätte der See sie erst wenige Schritte vor der Flussmündung angeschwemmt. Mit heftigen Paddelschlägen steuerten sie die Kanus in den Fluss, schwer bewaffnete Krieger mit nackten Oberkörpern,
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