Der Stein der Wikinger
»Folge der Sonne nach Westen, dann wirst du ans Ziel kommen. So habe ich es in meinen Träumen gesehen. Und denke daran, dass du es nicht kampflos erreichen wirst. Dein Weg ist sehr steinig.«
»Ich habe keine Angst, Solveig.«
»Das weiß ich, mein Sohn.«
In dieser Nacht rollte Hakon sich nicht mehr in seine Decken. Mit dem Buch an seiner Brust trat er ins Freie und atmete die würzige Luft. Er mochte das Land nach einem starken Regen, den Duft der frischen Erde, der hier in Danmark noch viel intensiver war als in seiner Heimat. In den Bäumen, die fast doppelt so hoch waren wie in Eisland, raschelte frischer kühler Wind.
Mit einem Blick zum Himmel dankte Hakon den Göttern für ihre Hilfe. Im Gegensatz zu den meisten anderen Nordmännern rief er die Götter lieber nur in Gedanken an, statt laut mit ihnen zu sprechen. Sie hatten ihm Solveig geschickt, ohne die er wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Nach Westen, dachte er, über das Meer in die untergehende Sonne. Wie sollte er diese Reise bewältigen? Er besaß weder ein Schiff noch kannte er jemand, der ihn mitnehmen würde. Und sein Vermögen war nicht groß, seit er die Hälfte seines Silbers dem Bernsteinhändler gegeben hatte.
Ein letztes Mal kam ihm die Alte zu Hilfe. Nur wenige Tage nachdem er am Herdfeuer mit ihr gesprochen hatte, schenkte sie ihm ein geheimnisvolles Lächeln und verkündete: »Es ist so weit, mein Sohn. Du wirst uns verlassen.«
Anscheinend hatte sie Valgard überredet, Hakon mitzunehmen, denn am Abend desselben Tages, als sie dicke Fischsuppe löffelten, sagte der Jarl: »Wenn die Sonne zum zehnten Mal aufgeht, fahren wir nach Westen. Es ist lange her, dass wir in Bretland oder Thrallmart waren und reiche Beute gemacht haben. Zu lange. Unsere Schwerter und Streitäxte sind stumpf geworden. Schärft sie und bereitet euch auf einen langen Kriegszug vor.« Er nahm einen Schluck von seinem Beerenwein und wandte sich an Hakon: »Du wirst uns begleiten. Bedanke dich mit dem Schwert für unsere Gastfreundschaft!«
»Ich bin bereit, mein Jarl.«
Das Kriegsschiff der Sippe, eine schlanke Skaid mit zwanzig Ruderbänken, lag im Hafen von Hollingstedt. Valgard hatte die zehn Tage genützt, um Boten zu den umliegenden Höfen zu schicken und eine schlagfähige Kampftruppe zusammenzustellen. Die Männer hatten ihre Waffen überprüft und geschärft, die Schilde mit frischer Farbe bemalt und die Sklaven angewiesen, den großen Ochsenkarren mit zusätzlichen Waffen, Werkzeugen und Vorräten wie gedörrtem Fisch, gesalzenem Käse, saurer Milch und Trinkwasser zu beladen. Ihre persönliche Habe trugen die Krieger in Kisten oder Fellsäcken an Bord. Zu schwer durfte die Fracht nicht sein, um dem Schiff ein schnelles Manövrieren zu ermöglichen, falls sie auf hoher See angegriffen wurden.
Der Morgen, an dem sie ausliefen und über Treene und Eider aufs offene Meer hinausfuhren, war bewölkt und regnerisch. Dennoch war die Stimmung gut. Die Männer waren begierig darauf, fremde Küsten zu überfallen und ihre Waffen zu gebrauchen, und zogen kräftig an den Rudern, um die Heimat möglichst schnell hinter sich zu lassen. Ihre Augen glänzten vor Begeisterung, als sie den salzigen Geruch des Meeres in die Nase bekamen und sich das rot-weiß gestreifte Segel mit Wind füllte. Endlich wieder auf See, den frischen Wind im Nacken und das Rauschen der Wellen wie Musik in den Ohren.
Hakon hatte während der vergangenen Wochen meist still vor sich hin gearbeitet. Keinen der Männer hatte er näher kennengelernt. Auch die anderen betrachteten ihn immer noch als Außenseiter, als sonderbaren Fremden, der unter dem Schutz der alten Solveig stand und einem geheimnisvollen Traum folgte, den keiner von ihnen kannte. Die meisten hielten ihn für einen der legendären Landsucher, einen dieser fernwehkranken Nordmänner, die ihrer Heimat den Rücken kehrten, um nach unbekannten Ländern zu suchen.
Während der ersten Tage fuhren sie an der Küste von Danmark entlang nach Norden. Der Wind blähte das trapezförmige Segel und ersparte ihnen das lästige Rudern. Leichter Nieselregen trieb ihnen ins Gesicht. Ihrer Stimmung tat das keinen Abbruch. Sie waren solches Wetter gewöhnt und genossen den Regen sogar. Er kühlte ihre Haut und reinigte ihre verfilzten Bärte. Ihr Langschiff, schlank gebaut und von geringem Tiefgang, ritt zügig über die Wellen und lag so sicher im Wasser, wie Hakon es bei keinem anderen Schiff erlebt hatte. Der Erbauer musste ein wahrer
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