Der steinerne Engel
behandeln zu lassen, ehe er den Wagen an den Telefonmast gefahren hat.«
»Und jetzt glauben Sie, dass Sie den Falschen umgebracht haben?«
»Ich habe gehört, wie Ira Ihnen erzählte, dass sein Vater den ersten Stein geworfen hat. Das ist doch der Beweis, oder? Cass wollte alles öffentlich machen, und da hat mein Mann ...« Die Hände hatten den Kampf mit der Kuchenverpackung aufgegeben.
»Ihr Mann hat Ira nicht angerührt.« Charles legte eine Hand über die ihren. »Aber ich denke, dass man ihm weisgemacht hat, Cass habe ihn beschuldigt. Travis ist es ähnlich ergangen. Malcolm hat ihm Cass Shelleys Brief vorgelesen, und Travis dachte, sie hätte ihn beschuldigt, einen Jungen - Jimmy vermutlich - in der Haft missbraucht zu haben. Als Travis im Sterben lag, hat er gesagt, dass Cass ihn mit Hilfe der Wissenschaft kaputt machen wollte. Er war unschuldig, aber schon der Verdacht hätte ihn zugrunde gerichtet. Der Stein wurde ihm in die Hand gelegt, der Gedanke ins Gehirn geblasen.«
Wie viel Schaden ein einziger Stein, ein einziger Gedanke anrichten konnte, sah man ja an Darlene. Und Travis hatte nur einen Hund gesteinigt. »Bei den Akten lag übrigens auch ein Laborbefund Ihres Mannes. Das Testergebnis war negativ.«
»War das der Brief, aus dem Malcolm vorgelesen hat?«
»Das nehme ich an. Das Datum entspricht dem der Steinigung. Mallory hat eine Kopie im Krankenhausarchiv gefunden. Das Krankenhaus hatte auch an Ihren Mann direkt geschrieben und den Befund beigelegt, aber bis der Brief zum Versand kam, war Cass schon tot.«
»Und deshalb hat er sich umgebracht.«
Für Selbstmorde gab es keine sinnvolle Erklärung - und doch wünschte sich Darlene wenigstens für ein paar Minuten eine geordnete, überschaubare Welt. In einem Augenblick, da um sie herum alles zusammenzubrechen drohte, war das ein nur zu verständlicher Wunsch.
»Ja«, sagte er. »Zwischen Ihrem Mann und Cass kam es vermutlich zum Streit, als sie ihn um eine Blutprobe bat. Im Bewusstsein seiner Unschuld dürfte er empört reagiert haben, aber sie brauchte die Probe, um ihn als Verdächtigen ausschließen zu können. Cass hatte die Ergebnisse in der Hand, als sie an jenem Tag voller Wut den wahren Kinderschänder aufsuchte.«
»Dann war es doch Babe, und Mal hat seinen Bruder mit dem Brief gedeckt.«
»Mit letzter Sicherheit werden wir das nie wissen.«
»Ja, wer sollte es denn sonst sein?« Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie merkte, dass die schrille Frage aus ihrem eigenen Mund gekommen war. Die Gäste am Nebentisch erhoben sich hastig und stießen in ihrer Eile einen Stuhl um, der noch einen Augenblick auf den beiden hinteren Beinen wippte, ehe er geräuschvoll zu Boden fiel.
»Babe hatte die Krankheit vor den anderen!« Ihre Stimme war jetzt bis in den hintersten Winkel zu hören. Sie streckte die Hände aus, als wollte sie die Worte zurückholen. Um sie herum verstummten die Gespräche, und Gäste, die allein am Tisch saßen, legten die Zeitungen aus der Hand.
Darlene Wooley presste die Lippen zusammen. Sie hatte sich mühsam wieder gefangen. »Als der bewusste Laborbericht verfasst wurde, war Babe neunzehn und hatte die Krankheit am längsten, das hat mir die Schwester gesagt.«
Und deshalb musste es stimmen. Weil sie an die Wissenschaft glaubte, hatte ein Mensch sterben müssen.
»Diese Chronologie besagt für sich genommen noch nichts darüber, wer wen angesteckt hat.«
Die Zellophantüte zeigte keinerlei Zeichen von Beschädigung, dafür war das Kuchenstück schon ziemlich ramponiert. Darlene nahm noch einen Anlauf, der hartnäckigen Verpackung beizukommen, dann gab sie endgültig auf. »Wenn Ira es mir nur hätte sagen können.«
»Kinder sind die besten Verbündeten«, stellte Charles fest. »Sie lassen sich so leicht einschüchtern, dass sie selten etwas verraten. Jimmy hat nie etwas gesagt und Babe, als er seinerseits missbraucht wurde, auch nicht.«
»Babe?«
»Die Obduktion hat ergeben, dass er unter Syphilis im Spätstadium litt. Wann die Ansteckung erfolgt war, konnte der Pathologe nicht mehr feststellen, er hatte ja nur die Leiche und wusste nichts von Babes Krämpfen, seinen zittrigen Beinen, den Tobsuchtsanfällen, dem Größenwahn - alles Zeichen, die auf die Krankheit in dieser Phase hindeuten.«
Einige dieser Symptome konnte man bei Malcolm beobachten, als er Babe auf der Bühne dargestellt hatte. »Wenn Babe durch die Gegend torkelte, glaubte man, dass er high von Drogen war. Und bestimmt nahm er
Weitere Kostenlose Bücher