Der steinerne Engel
zurückgefahren und hab auf den Sheriff gewartet. Jeden Augenblick, davon war ich fest überzeugt, würde Tom hereinkommen und mich verhaften. Als der Arzt zu mir ins Wartezimmer kam, hat er nicht gemerkt, dass ich mehr Blut als vorher an meinen Sachen hatte. Babes Blut über dem von Ira.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht, und Charles sah ihre wunden Fingerkuppen.
»Essen Sie etwas.« Das hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt, wenn er sich wieder durch einen Tag unter normalen Kindern mit durchschnittlich großen Nasen und durchschnittlicher Intelligenz gequält hatte: »Iss was!« Essen war ein Sinnbild für Zuwendung und Fürsorge, und etwas anderes fiel ihm als Trost nicht ein.
Darlene griff nach der Gabel und rührte zerstreut die Erbsen in die Preiselbeersoße. »Ich bin fast verrückt geworden bei dem Gedanken, was aus meinem Jungen werden sollte, wenn ich ins Gefängnis muss.« Die Erbsen drehten sich immer schneller in der roten Soße. »Jeden Tag hab ich erwartet, dass Tom mich verhaften würde. Einmal hab ich sogar versucht, es ihm zu sagen, ich konnte es einfach nicht mehr aushalten.«
Die Gabel rutschte weg, Erbsen fielen zu Boden, eine segelte bis auf den Nachbartisch. »Aber dann hab ich es doch nicht fertig gebracht. Wer hätte sich um Ira gekümmert?«
Die beiden Gäste am Nebentisch starrten verwundert auf die Erbse und den Preiselbeerfleck mitten auf ihrem Tisch.
Darlene ließ das Gemüse stehen. Die Erbsen waren ihr wohl zu widerspenstig. Sie griff nach dem Kuchen in der Zellophanpackung. »Woher wissen Sie es, Charles?«
»Cass Shelley hatte Iras Blutproben in diesem Krankenhaus nehmen lassen. Als Sie ihn mit gebrochenen Händen dort hinbrachten, erschien eine Markierung auf dem Computerschirm, die signalisierte, dass es für Ira bereits einen Eintrag gab, der vorgenommen worden war, als Ira sechs war. Der Arzt dürfte Sie gefragt haben, ob die Syphilisbehandlung erfolgreich abgeschlossen wurde. Der Computereintrag gab nicht viel her, und es ist üblich, nach der Krankheitsgeschichte des Patienten zu fragen.«
»Es war nicht der Arzt, sondern die Schwester in der Aufnahme.« Darlene suchte vergeblich nach einem Zugang zu der Zellophanhülle. »Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Es müsse sich um einen Irrtum handeln, sagte ich. Ira sei damals wegen Hepatitis getestet worden, nicht wegen Syphilis.«
Charles überlegte, ob es wohl unhöflich wäre, Darlene seine Hilfe anzubieten.
»Und als ich beim besten Willen nicht begriff, worauf sie hinauswollte, ist sie mit mir in den Keller gegangen, wo die Akten des Gesundheitsamts für unser County lagerten.«
Die Kuchenverpackung widerstand allen Angriffen. Darlene versuchte, die Hülle mit einem Finger anzubohren, hatte aber ganz vergessen, dass ihre Nägel dazu nicht mehr taugten. »Wir fanden die Akte. Die Fälle waren nicht mit Namen gekennzeichnet, nur die Daten und Testergebnisse waren angegeben. Es handelte sich um einen Sechsjährigen - das war Ira -, einen Dreizehn- und einen Neunzehnjährigen. Die Frau vom Archiv sagte, die Fälle seien alle zusammen in einem Ordner, weil die Ärztin - Cass Shelley - die Ansteckung hatte zurückverfolgen wollen.«
»Der Dreizehnjährige war Jimmy Simms.«
»Ja, das dachte ich mir. Und Babe war in dem Jahr neunzehn geworden, seine Syphilisparty war Stadtgespräch gewesen. Und dann fiel mir die Wunderheilung ein, nach der Ira wie umgewandelt war. Da habe ich natürlich gedacht, er hätte meinen Jungen missbraucht. Was hätte ich denn sonst denken sollen? Und er hatte Ira die Hände gebrochen. Ich hatte schließlich gute Gründe ...«
»Jetzt scheinen Sie sich aber Ihrer Sache nicht mehr so sicher zu sein.«
»Nachdem ich ihn umgebracht hatte ...«Sie beschäftigte sich, um Charles nicht ansehen zu müssen, wieder mit dem Kuchen. »Noch am gleichen Abend ist mir klar geworden, dass mein Mann von Iras Syphilis gewusst haben muss. Es ist Vorschrift, dass die Eltern benachrichtigt werden, nicht? Ich glaube, dass er sich deshalb mit Cass überworfen hat. Vielleicht hat sie ihn beschuldigt, seinen eigenen Sohn missbraucht zu haben.«
Ihr Trauring fiel auf den Tisch. Charles überlegte, wie viel sie wohl abgenommen hatte. Er hätte ihr so gern mit der Kuchenverpackung geholfen, damit sie etwas in den Magen bekam.
»Ja, so muss es gewesen sein.« Sie drehte und wendete den Kuchen in ihren Händen und zerkrümelte ihn. »Ira ist jetzt ohne Befund. Mein Mann hatte demnach zumindest den Anstand, ihn
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