Der steinerne Engel
das Gesetz vergangen, den verbotenen Schritt über die Grenze getan, und das rächte sich jetzt. Mit der Vorahnung eines drohenden Flugzeugabsturzes hätte er besser leben können.
»Nein, es interessiert mich nicht«, log er. Bisher war er immer auf der Seite der Opfer gewesen. Die Liebe zu Mallory forderte einen hohen Preis. »Wir wissen von zwei Jungen, die Babe Laurie missbraucht hat. Wie vielen, von denen wir nichts wissen, hat er noch Gewalt angetan? Der Mord war ein Dienst an der Allgemeinheit.«
Er wusste, dass auch das nicht stimmte. Ein Mord war das Schlimmste aller Verbrechen. Seine Gefühle für Mallory hatten sich dadurch gewandelt. Er war es leid ...
»Dafür hast du nur die Aussage von Jimmy Simms«, erwiderte Charles. »Du hast doch wohl alles so aufgeschrieben, wie er es gesagt hat? Ich könnte mir vorstellen, dass er vor lauter Weinen gar nicht zusammenhängend sprechen konnte ...«
»Willst du damit sagen, ich hätte was überhört?« Auf die Antwort legte Riker nicht den geringsten Wert, und Charles schien das zu spüren und schwieg.
»Charles, warum tust du mir das an?«
»Ich wollte nur sicher gehen, dass nicht diesmal du den Blinden spielst. Du willst also nicht wissen, wer Babe umgebracht hat? Es interessiert dich nicht? Auch gut.«
Charles wandte sich zum Gehen.
»Warte. Wer war es?«
»Du musst dich schon entscheiden, Riker. Entweder es interessiert dich, oder es interessiert dich nicht. Angenommen, es war der Sheriff? Ein durchaus sympathischer Mann übrigens ... Sagte ich schon, dass er ein Motiv, die Gelegenheit und kein Alibi hatte? Aber auch für den würdest du bestimmt eine Rechtfertigung finden. Das ist wohl ein Privileg, das euer Job so mit sich bringt: Seine Freunde kann man bei einem Mord ungestraft davonkommen lassen.«
»Der Sheriff? Soll das heißen ...«
»Von mir erfährst du nicht, wer es war. Ich weiß es - aber dich interessiert das ja nicht.« »Wer hat ihn umgebracht, Charles?«
»Wie hast du vorhin gesagt? Das interessiert ja doch keinen.« Er ging zur Tür und öffnete sie weit.
»Mach mich nicht verrückt. Wer ...«
»Guten Flug, Riker.«
Die Tür fiel ins Schloss.
Riker hörte die Vögel nicht mehr. Er stand am Fenster und sah zum Wagen des Sheriffs hinunter. Ein Cop durfte keinen seiner Verdächtigen umbringen - das war für Riker ein ehernes Gesetz. Jetzt aber glaubte er doch an Mallorys Unschuld. Den Mann zu verdächtigen, der unten auf ihn wartete, war das geringere Übel. Damit konnte er leben.
Danke, Charles.
Ira lag in einem weichen Nest aus weißen Verbänden und weichen Betttüchern und schlief. Seine Mutter saß an seinem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Darlene Wooley trug heute kein Kostüm. Der schlichte dunkle Rock und die Bluse ließen sie noch blasser erscheinen, und Charles fragte sich, wie oft sie in den vergangenen Tagen an die frische Luft gekommen war.
Jetzt sah sie lächelnd auf, knickte als Lesezeichen eine Seite um und blickte rasch zu Ira hinüber, als hätte sie Angst, ihn mit dem Rascheln zu stören. Sie winkte Charles hinaus auf den Gang und schloss leise die Tür hinter sich.
»Er ist gerade erst von der Intensivstation gekommen. Sein Arzt sagt, dass es ihm schon besser geht.«
»Das freut mich. Ich habe eine gute Nachricht für Sie. Darf ich Sie zu einem Kaffee in der Cafeteria einladen?«
Rock und Bluse waren Darlene zu weit geworden, ihre Nägel waren zerbissen, die Fingerkuppen wund.
»Wenn er wach ist«, sagte Darlene, »darf ich seine Hand halten. Dabei lässt er sich bestimmt immer noch so ungern anfassen. Es ist, als ob er mir ein Geschenk machen will.«
Automatisch hob sie die Finger an den Mund, doch dann fielen ihr offenbar die abgebissenen Nägel ein, und sie schob die
Hände tief in die Rocktaschen. »Als Ira klein war, hat er mir Blumen aus Cass Shelleys Garten mitgebracht. Ich dachte immer, sie hätte ihn dazu aufgefordert, vielleicht im Rahmen der Therapie. Aber Mallory hat mir gestern Abend erzählt, dass Ira immer gefragt hat, ob er Blumen für seine Mutter pflücken dürfe.«
Eine rührende Geschichte, dachte Charles. Und womöglich noch rührender, wenn Mallory sie sich ausgedacht hatte.
Die Cafeteria hallte von Schritten wider, Gesprächsfetzen schwirrten durch die Luft, Geschirr und Besteck klapperten. Personal und Gäste waren mit sich selbst beschäftigt und beachteten Charles und seine blasse Begleiterin kaum.
Darlenes Haut wirkte unter den Neonleuchten fast krankhaft
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