Der steinerne Engel
auch schmerzstillende Mittel. Gegen Ende seines Lebens muss er große Schmerzen gehabt haben. Diese Symptome treten normalerweise erst nach dem fünfzigsten Lebensjahr auf.« Und nach all den seelischen und körperlichen Belastungen, denen Babe ausgesetzt gewesen war, hatte er wohl den Körper eines Fünfzigjährigen besessen, während er nach dem Kalender erst sechsunddreißig war.
»Wie konnte das geschehen? Hätte man das nicht merken müssen?«, fragte Darlene und hielt erschrocken inne, denn bei Ira hatte sie es ja auch nicht gemerkt. Und - wussten Jimmy Simms Eltern, was man ihrem Kind angetan hatte?
»Malcolm wusste es bestimmt«, sagte Charles. »Babe hatte die ganze Skala der syphilitischen Symptome durchlitten, aber Malcolm hätte sich gehütet, ein Kind, noch dazu sein eigenes Mündel, wegen einer Geschlechtskrankheit behandeln zu lassen. Das hätte mit Sicherheit zu einer Ermittlung geführt.«
»Aber Cass hat Babe behandelt, als ...«
»Als er schon ein Teenager war und sein Vormund verbreiten konnte, er habe sich die Syphilis durch häufig wechselnden Geschlechtsverkehr geholt. Tom Jessop hat mir erzählt, dass Cass den Jungen fast mit Gewalt in ihre Praxis schleppen musste, um ihn zu behandeln. Die Schädigungen waren für einen Fachmann inzwischen deutlich sichtbar. Sie brauchte nicht auf den Befund zu warten, um Bescheid zu wissen. Als dann die Befunde kamen und sie Ausmaß und Dauer der Krankheit erkannte, stellte sie den Zusammenhang zu Jimmy Simms her. Seine Hepatitis führte sie zu Ira, und nun hatte sie jede Menge Fragen an Malcolm.«
Das Zellophan platzte mit einem leisen Knall auf, und Darlenes Hand war voller Kuchenkrümel. »Als sie an dem Tag zu der Sitzung ging, wollte sie also Malcolm zur Rechenschaft ziehen ...«
»Er hat Babe seit dessen fünftem Lebensjahr aufgezogen und hatte die Gelegenheit.«
Ihre Hand schloss sich, braune Brösel rieselten ihr durch die Finger. »Dann hat Babe nur das getan, was auch ihm angetan wurde. Das klingt plausibel.«
Es war nur zu begreiflich, dass sie in ihrer Verzweiflung nach einer sinnvollen Erklärung suchte, aber er schüttelte den Kopf. »Nur Anwälte führen ins Feld, dass ihre Mandanten, die wegen Kindesmissbrauch vor Gericht stehen, selbst als Kinder missbraucht wurden. Die Statistiken zu diesem Thema sind alle mit großer Vorsicht zu genießen. Malcolm war immer der nächstliegende Verführer. Vom Zeitfaktor her stimmt alles. Wahrscheinlich hat er sich seinen Neffen Jimmy vorgenommen, als Babe kein Kind mehr war, und während der Wunderheilung kam er ohne weiteres an Ira heran.«
Das war die wahrscheinlichste Erklärung für Iras Rückfall. Babes unwillkommene Berührung bei der angeblichen Wunderheilung hatte den kleinen Jungen tief verstört, er hatte geschrien vor Angst, und Malcolm hatte den väterlichen Freund herausgekehrt und sich mit dem Jungen in eine ruhige Ecke verzogen. Wenn Ira jetzt erneut geschrien hatte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass er einen konkreten Grund dafür hatte - nicht einmal sein Vater, der an jenem Abend im Publikum gesessen hatte, während sein Sohn vielleicht nur ein paar Schritte weiter missbraucht wurde.
Darlene hatte offenbar diesen Gedankengang nachvollzogen und schüttelte jetzt den Kopf, als wollte sie das Bild vertreiben, das vor ihrem inneren Auge stand. Die trockenen Kuchenkrümel verteilten sich, zu feinem Staub zerdrückt, über Tablett, Tisch und Fußboden.
»Es muss für Babe schwer gewesen sein, Cass Shelley sterben zu sehen«, sagte Charles. »Sie war früher seine Ärztin und vielleicht der einzige Mensch, der sich je um ihn gekümmert hatte. Und dann tauchte Mallory auf, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, und Ira wiederholte ständig diese Tonfolge auf dem Klavier. Dieselbe Tonfolge, die von einer Schallplatte mit einem Sprung ablief, während Cass von dem Mob gesteinigt wurde. Die Töne brachten Babe zur Raserei. Vielleicht hat er Ira angeschrien, hat ihm befohlen aufzuhören, aber Sie wissen ja, dass Ira so etwas einfach verdrängt. Er spielte weiter, und Babes Krankheit war schon so weit fortgeschritten, dass er mit Frustrationen einfach nicht mehr umgehen konnte. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als Ira den Klavierdeckel auf die Hände zu schlagen, um die Töne nicht mehr hören zu müssen. Sobald die Musik verstummt war, legte sich seine Aggression sofort.«
»Aber Babe hat Mallory aufgelauert«, beharrte Darlene mit lauter Stimme. »Er wollte
Weitere Kostenlose Bücher