Der steinerne Engel
Begabung zu schreiben.
Als Malcolm eine halbe Stunde später aufstand, schüttelte Charles ihm mit ungeheuchelter Herzlichkeit die Hand. Die Tür hatte sich kaum hinter ihm geschlossen, als Charles’ Hochstimmung verflog und sich eine schmerzliche Leere ausbreitete. Er saß allein am Tisch – mit einem unberührten Sandwich und einer letzten Frage.
Was wollte Mallory wirklich? Was hatte sie wieder in diesen Ort geführt? Heimweh kommt es nicht sein. Selbst wenn sie weniger kalt und gefühllos gewesen wäre – familiäre Bindungen hatte sie hier nicht mehr. Ihre Mutter war tot. Es war ein plötzlicher Tod – so hatte Augusta Trebec gesagt.
Der Sheriff umklammerte die Gitterstäbe von Mallorys Zelle. »Sehr hast du dich nicht verändert. Nur größer bist du geworden. Wie gut erinnerst du dich an mich?«
Sehr gut. Ihre letzte Erinnerung an Sheriff Jessop war die an einen schlimmen Verrat. So gründlich sie die auch verdrängt hatte – in unbedachten Augenblicken und Träumen voller Gewalt brach sie sich immer wieder Bahn.
Früher hatte Louis Markowitz sie aus den kindlichen Albträumen gerettet. Er hatte in ihrem Zimmer Licht gemacht und seine Pflegetochter festgehalten, bis die Füße nicht mehr zappelten, die im Traum vor dem Blutbad weggelaufen waren, bis sie aufwachte und wieder festen, verlässlichen Boden unter sich spürte. Nach Markowitz’ Tod war ihr Leben aus den Fugen geraten. Seit sie ihn begraben hatte, wurde sie täglich von hässlichen Bildern heimgesucht.
Irgendwann, dachte sich Mallory, musste Tom Jessop es doch einmal leid sein, ignoriert zu werden, irgendwann würde er sich trollen und sie in Ruhe lassen. Aber er war hartnäckig. Er hing weiter am Gitter. Am liebsten wäre sie ihm mit den Nägeln durchs Gesicht gefahren. Sie ballte die Hände zu Fäusten und drückte sich die langen roten Fingernägel ins Fleisch, bis es wehtat.
Sie sah auf die Dellen in ihren Handflächen. Seit einem Jahr ging das schon so. War sie drauf und dran, den Verstand zu verlieren? Markowitz war nicht mehr da, und jetzt besaß sie nicht mal mehr seine Taschenuhr. Die hatte der Sheriff, und auch das setzte Mallory auf sein Sündenregister.
»Weißt du, wie deine Mutter gestorben ist?«
Was für eine Frage. Kannte der Sheriff kein anderes Thema? Sie hatte es so satt, täglich das Gleiche zu hören. Stumm starrte sie die Wand an. Sie hörte ihn seufzen.
»Als Kind hast du nicht viel geredet«, sagte er. »Aber gelacht hast du die ganze Zeit. Du warst deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Mir fehlt sie auch. Vielleicht könnten wir uns gegenseitig helfen, Kathy.«
»Nenn mich nicht so.« Jetzt endlich drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gesicht war voller Hass.
Erschrocken ließ er die Gitterstäbe los. »Ich glaube, ich weiß, was du denkst.«
Ach ja? Warum verreckst du dann nicht? Sie sah ihn unverwandt an, bis er den Blick senkte.
»Du denkst, ich hätte inzwischen den Fall abschließen, sie allesamt verhaften müssen.« Jetzt sah er sie wieder an. »Glaubst du nicht, dass ich das gewollt habe?«
Nein, das glaube ich nicht.
»Ich habe viel Schlimmeres gewollt.«
Worte sind billig.
»Was um Himmels willen ist da draußen mit dir passiert?« Wieder griff er in die Stäbe. »Du warst ein so heiteres Kind. Und jetzt hast du die kältesten Augen, die mir je begegnet sind. Wenn ich wüsste, wer dir das angetan hat – ich würde ihn umbringen, das schwöre ich.«
Mallory spürte, dass er sie am liebsten berührt hätte. Sie erinnerte sich daran, wie er sie hochgeworfen und in seinen starken Armen wieder aufgefangen hatte. Wie alt war sie damals gewesen? Drei oder vier? Sie hatte gekreischt vor Vergnügen. Seit der Zeit war sie zu ihm gelaufen, sobald sie ihn sah, immer in der Hoffnung, er würde sie wieder durch die Luft fliegen lassen.
Und dann war alles anders geworden. Als sie vor vier Tagen hier angekommen war, hätte sie ihn am liebsten auf der Stelle abgeknallt.
»Wann werden Sie Anklage gegen mich erheben, Sheriff?«
»Mordanklage, meinst du? Überhaupt nicht. Du bist eine wichtige Zeugin und deshalb in Schutzhaft.«
»Geben Sie mir meine Kanone. Ich kann mich selber schützen.«
»Vielleicht geht es mir auch eher darum, die Stadt zu schützen. Es ist mir egal, ob du Babe umgebracht hast, deswegen würde ich dich nie zur Rechenschaft ziehen. Aber was ist mit den anderen? Ich kann nicht zulassen, dass du die alle aufs Korn nimmst.«
Mallory wartete lange. Es war sehr still. Endlich
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