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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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gehabt. Er wandte den Blick ab, als sie an einem Bild, das eine Landschaft mit geisterhaften Bäumen im Mondlicht zeigte, vorbeigingen, das früher bestimmt ein Vermögen wert gewesen war. Auch im Speisezimmer hingen an den stockfleckigen Wänden kostbare Gemälde voller Sprünge und Risse, die sich in ihren Rahmen gewellt hatten.
    »Warum hat man hier alles so verfallen lassen?«, platzte er heraus, obgleich er sich eigentlich fest vorgenommen hatte, den Mund zu halten.
    »Das habe ich meinem Vater auf dem Sterbebett versprechen müssen.«
    Hatte der Mann den Verstand verloren? Doch diese unhöfliche Frage behielt Charles wohlweislich für sich. Schweigend folgte er Augusta zurück in die Galerie, die sich zu einem Ballsaal hin öffnete.
    Angesichts des großen, lichtdurchfluteten Raums mit den weißen Wänden und dem hellen Fußboden ging ein Lächeln über sein Gesicht, das sich aber rasch verflüchtigte, als er den ruinierten Marmorboden sah. Fast alle Fliesen waren gesprungen, manche fast zu Staub zerfallen.
    »Der Schaden geht auf das Konto eines meiner Pferde«, sagte Augusta. »Ein kräftiger Kerl, der Appaloosagaul, aber man sollte nicht glauben, wie widerstandsfähig dieses Material ist.« Wie eine Fremdenführerin fügte sie erläuternd hinzu: »Was Sie hier sehen, ist alles italienischer Marmor.«
    Charles konnte kaum noch an sich halten. Seine Eltern hatten ihm nie erlaubt, im Haus zu toben, weil sie Angst gehabt hatten, er könnte dabei ein altes, kostbares Stück aus Glas oder Porzellan beschädigen, Augusta aber war mit einem Pferd durch diese Räume getrabt.
    Gemeinsam stiegen sie die breite Treppe hinauf und über den Flur im Obergeschoss, von dem rechts und links weitere Räume abgingen. Zu jedem gab Augusta eine kurze Erklärung. Überall hingen kostbare Wanduhren, die alle zur gleichen Zeit – in der Sterbestunde ihres Vaters – angehalten worden waren.
    »Das Haus ist aus Zypressenholz gebaut«, meinte Augusta mit einem Anflug von Ärger, »und dadurch immun gegen Termitenfraß. Die Böden sind aus Fichte und noch fast völlig intakt. Zumindest beim Dach aber zeigen sich erste Schäden. Durch ein paar Löcher sieht man schon den Himmel. Nur die Fledermäuse tun mir Leid, sie können die Sonne so schlecht vertragen. Ein paar sind schon in die unteren Stockwerke umgezogen.«
    Charles warf einen Blick in den letzten Raum vor der nächsten Treppe. Kothäufchen auf dem Boden zeigten, dass sich hier tatsächlich schon Fledermäuse eingenistet hatten. An einer Wand stand ein kunstvoll geschnitztes Himmelbett, an dem zerschlissene, spinnwebbedeckte Moskitonetze herabhingen. Auf der Matratze lag eine tote Fledermaus. Auf dem Dachboden standen weitere antike Möbel, die den Spinnen als Wohnung dienten. Charles sah zu seinen Füßen einen zerbrochenen Spiegel liegen.
    »Warten Sie hier!«, befahl Augusta. »Ich will nur nachsehen, ob sie alle ausgeflogen sind. In den letzten dreißig Jahren haben wir hier nur ganz wenige Fälle von Fledermaustollwut gehabt, aber man kann nie wissen.« Sie verschwand hinter einer Tür, aus der ein penetranter Gestank drang.
    Charles wandte sich der einzigen Licht- und Luftquelle zu. Dies war nicht das runde Fenster mit Blick auf die Stadt. Wer hier stand, sah auf das Gelände hinter dem Haus. Auf dem breiten Fenstersims lag ein Feldstecher.
    Es dämmerte schon, aber das einst sorgfältig gepflegte Labyrinth und die gestuften Terrassen waren in dem jetzt verwahrlosten Garten noch deutlich zu erkennen. Charles stellte ihn sich in früheren Zeiten vor, als die Büsche sauber beschnitten und die Blumen noch nicht wild über die Beete gewuchert waren. Durch das Gelände zog sich ein Plattenweg, der an manchen Stellen unter üppigem Grün und blauen und roten Blüten verschwand. Dazwischen waren andere, exotisch wirkende orangefarbene …
    In diesem Moment erhoben sich zwei der bunten Blumen in die Lüfte, und alle Blüten fingen an zu singen. Der Garten war voll von Vögeln, die jetzt wie in einer Kettenreaktion aufflogen und ihre Lieder tirilierten.
    Charles griff nach dem Feldstecher und stellte ihn auf die Büsche und Bäume scharf. An vielen erkannte er kegelförmige Futterhäuschen.
    Dies war kein Nebeneffekt der absichtlichen Verwahrlosung, die Augusta betrieb, sondern eine bewusst ins Werk gesetzte Schöpfung.
    Jetzt stand sie neben ihm, während die Blüten weiter singend herumflogen.
    »Meinen Glückwunsch, Augusta! Einen so schönen Garten habe ich noch nie

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