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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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hörte sie, wie sich seine Schritte entfernten. Sie drehte sich rasch um, legte ihr Gesicht ans Gitter und pfiff ein kurzes Stück einer vertrauten Melodie.
    Er stolperte und stützte sich mit einer Hand hastig an der Wand ab. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, aber sein Gang hatte sich geändert. Er war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen und hielt den Kopf gesenkt.

7
    Augusta kramte in ihren Kleidertaschen herum. »Wo hab ich bloß die Schlüssel gelassen? Heute Vormittag hatte ich sie noch.«
    Der Schimmel senkte seinen großen Kopf und stupste sie an die Schulter.
    »Richtig, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich habe sie Henry Roth gegeben, er wollte für mich nach einer Rohrleitung sehen. Der Klempner am Ort ist nämlich ein Gauner.«
    »Ich möchte Mr. Roth nicht bei der Arbeit stören.« Charles streichelte die seidige Schnauze. Der Hengst war nicht mehr ganz jung, sah aber für sein Alter noch recht gut aus.
    »Kein Problem.« Augusta hielt das Gatter auf, und der Schimmel liebkoste ihren Nacken, bis sie ihn, ungeduldig und gerührt zugleich, abwehrte. »Wir können Henry nach dem Essen mal anrufen.«
    Sie überquerten das offene Gelände zwischen der Koppel und einer alten Remise, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte. Das Pferd trug kein Halfter, folgte ihnen aber brav wie ein Hund.
    »Wird es Ihnen schon langweilig in unserer kleinen Stadt, Charles?«
    »Durchaus nicht. Heute habe ich Malcolm Laurie kennen gelernt. Ein faszinierender Mann!«
    Augusta schob den Riegel einer breiten Tür zurück, hinter der sie dunkle Kühle und der Geruch von Heu und Pferden empfing. Am Ende einer offenen Box hörte man Wasser in einen Trog laufen, und der Schimmel trottete sofort in diese Richtung.
    Als die Tür der Box geschlossen und verriegelt war, wandte sich Augusta mit strengem Gesicht Charles zu. »Dass Sie sich nicht in Malcolm verlieben!«, sagte sie streng.
    »Wie bitte?« Dachte sie etwa, er …
    »Es ist viele Jahre her, seit ich einen Mann zum Erröten gebracht habe. Kommen Sie.«
    Eben erst hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, da scheuchte sie ihn schon wieder hinaus in die grelle Sonne. Er blinzelte.
    In Malcolm verlieben?
    Während er ihr, die Hände tief in den Taschen vergraben, zurück zum Haus folgte, suchte er nach der richtigen Formulierung für seinen Protest, der auf keinen Fall zu energisch ausfallen durfte. Unvermittelt nahm sie, wie an dem Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten, seinen Arm.
    »Beruhigen Sie sich, Charles. Ich meine keine körperliche Beziehung. Männer verlieben sich ständig in andere Männer – man denke nur an eure Kriegs- oder Sportshelden. Ich glaube wirklich, dass die Liebe von Mann zu Mann stärker ist als die Liebe eines Mannes zu einer Frau, auch wenn die Männer natürlich furchtbar schockiert sind, wenn man ihnen das ins Gesicht sagt.«
    »Trotzdem ist es nicht ganz dasselbe«, erwiderte Charles – vielleicht ein bisschen zu schnell.
    »Nicht ganz dasselbe wie Sex, meinen Sie? Doch, natürlich ist es das. Malcolm setzt den Sex genauso ein, wie eine Frau es tun würde. Er ist schamlos. Und die Männer verfallen ihm ebenso wie die Frauen.«
    Charles straffte die Schultern und schob die Hände tiefer in die Taschen. »Ich will gern zugeben, dass dem Anführer einer Sekte Liebe und Verehrung seiner Anhänger zufliegen.« Klang das zu abwehrend? »Aber wenn man das psychiatrische Profil eines typischen Sektenmitglieds betrachtet …«
    »Lassen Sie mal das Fachchinesisch dieser Seelenheinis beiseite, Charles.« Sie packte seinen Arm fester und sah ihn tadelnd an, als wäre er ein Kind, das Unsinn gemacht hat. »Denken Sie nicht mehr an das, was hinter Ihrem Hosenschlitz ist, und sperren Sie die Ohren auf. Sie sind in einer Phase, in der Sie verletzlich und leicht zu verführen sind. So etwas haben wir alle schon mal erlebt – ob Mann oder Frau. Manchmal haben wir große Sehnsucht nach starken Armen. Malcolm hat Sie für morgen Abend zu der großen Show eingeladen, oder?«
    »Ja, zu dem Gedenkgottesdienst.« Er hatte fast das Gefühl, Augusta ein Rendezvous gestanden zu haben.
    »Der Malcolm, den Sie dort auf der Bühne sehen, wird Ihnen überlebensgroß vorkommen, er wird Sie mit seinem Blick verschlingen und Ihnen den Himmel auf Erden versprechen.« Was Malcolm ja bereits getan hatte. Das Himmelreich ist um sie, und die Menschen sehen es nicht.
    »Und Sie werden ihm glauben, weil Sie etwas brauchen, woran Sie glauben können.«

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