Der steinerne Engel
Fensterbrettern. »Das hübsche gelbe Blümchen da. Meiner Mutter habe ich es gegen ihre Depressionen gegeben. Sie ist dann doch gestorben. Aber bei Ihnen habe ich offenbar mehr Glück.«
»Sie haben mir Drogen ins Essen getan?«
»Nur eine Spur. Das törichte Lächeln gibt sich schnell wieder.
Eine kleine Nebenwirkung, aber harmlos … Und jetzt sollten wir Henry anrufen.« Sie schob ihren Stuhl zurück.
Das Lächeln hatte sich noch nicht verflüchtigt, aber es wirkte etwas angespannt, als er ihr auf den Gang hinaus und in ein Zimmer folgte, das ihn um mindestens ein Jahrhundert zurückversetzte. Diffuses Licht fiel auf die Audubon-Drucke, die an allen Wänden hingen. Auf einem runden Tisch mit kostbarer Einlegearbeit und kunstvoll geschnitzten Beinen lag ein aufgeschlagenes Skizzenbuch zu Füßen einer seltenen weißen Eule. Eine Schar verschiedenartigster Vögel sah ihn aus glänzenden Augen an und machte der Kunst von Augustas Präparator alle Ehre.
Sie benutzte also – wie seinerzeit Audubon – ausgestopfte Vögel für ihre Zeichnungen.
Die Decke war niedrig wie in einem Cottage, die Tische und die übrigen Möbel waren eine Mischung der verschiedensten Epochen und Stilrichtungen, sorgsam gepflegt und bestens erhalten. In die Wandnische war ein schmales Bett eingelassen. Der Raum wirkte trotz seiner Unordnung ausgesprochen gemütlich. An einer Wand stand ein großer Kleiderschrank, flankiert von Empire-Bücherregalen, und auf allen freien Flächen stapelten sich ornithologische Werke. Offenbar bewohnte sie nur dieses eine Zimmer – aber warum, wenn ein ganzes Herrenhaus zur Verfügung stand?
Kaum hatte er sich auf die Couch gesetzt, tauchte neben ihm die Katze auf und zwang ihn fauchend, ein Stück beiseite zu rücken. Sie machte es sich auf dem eroberten Terrain bequem und musterte ihn verächtlich.
Augusta benutzte einen Telefonapparat, der noch aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts stammte. »Ich habe zwölf Klopfer gezählt. Klopf noch einmal, Henry, für den Fall, dass ich mich vertan habe.« Sie wandte sich an Charles. »Wäre Ihnen zwölf Uhr mittags recht?«
»Ja.« Er sah zu der schmalen Treppe hin, die offenbar in die oberen Stockwerke führte.
»Schönen Dank, Henry.« Sie hängte den Hörer wieder ein.
»Er erwartet Sie im Haus. Der große Schlüssel ist für die Haustür, der kleine für die Dachkammer, wo ich die persönliche Habe von Cass aufbewahre.«
Charles deutete auf die Möbel. »Das ist eine beachtliche Kollektion von Antiquitäten. Ich bewundere Ihr Haus.«
»Von dem Sie über vierzig Räume noch nicht kennen. Wenn Sie wollen, führe ich Sie herum.«
»Ja, gern.«
Der Platz neben ihm war leer. Als er sich umdrehte, sah er, dass die Katze schon auf leisen Pfoten die Treppe hinauflief. Als Charles und Augusta oben ankamen, empfing sie sie schnurrend. Augusta blieb auf dem Treppenabsatz stehen und fauchte etwas in Katzensprache. Die Katze verschwand hinter Charles auf der Treppe.
»Lassen Sie sie nicht hinaus.« Augusta ging weiter und überließ es Charles, die wütende Katze mit einem Fuß abzuwehren.
Sie standen jetzt in einer langen Galerie. Alle Horizontalen erstreckten sich ins Unendliche, alle Vertikalen strebten in Schwindel erregende Höhen. Die Decke mochte an die vier Meter hoch sein, und die Türrahmen schienen für Dreimetermänner gemacht.
Augusta legte die Hand auf einen Türknauf aus Dresdner Porzellan und deutete auf die kunstvollen Deckenfriese. Die obere Wand war mit zarten Rosen bedeckt. »Die Blüten sind aus einer Mischung von Spanischem Moos und Stuck.«
Sie ging ihm voraus in einen noch großzügiger dimensionierten Raum. Hohe Fenster reichten vom Boden bis zur Decke. In dem hellen Licht, das sie hereinließen, sah man, dass die kostbaren Wandbespannungen in Fetzen herunterhingen und die Möbel voller Schimmel waren. Jedes Museum hätte diese Stücke zu einem früheren Zeitpunkt mit Kusshand genommen, jetzt aber waren sie irreparabel beschädigt. Durch gesprungene Fensterscheiben war Regen eingedrungen. An einer Chaiselongue waren die Vorderbeine abgeknickt, sodass es aussah, als liege sie auf den Knien. Der dicke Orientteppich moderte auf dem Boden vor sich hin. Unter Charles’ Schritten lösten sich Fasern, und Käfer ergriffen schleunigst die Flucht.
Geldmangel konnte nicht der Grund für die Verwahrlosung sein. Hätte Augusta diese Gegenstände rechtzeitig verkauft, hätte sie Geld genug für die Instandhaltung des Hauses
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