Der steinerne Engel
die Führung.«
»Gern geschehen, Charles. Kann ich noch was für Sie tun?«
»Sie könnten mir verraten, wie Cass Shelley gestorben ist.«
»Ich dachte, das hätten Henry oder Betty Ihnen längst erzählt«, antwortete sie überrascht.
»Ich habe sie nicht danach gefragt. Wie also ist Mallorys Mutter gestorben?«
»Soviel ich weiß, fand der Überfall vor dem Haus statt. Henry hat Kathys Hund dort gefunden. Das arme Vieh war halb tot. Die blutigen Hände von Cass hatten an der Hauswand zahlreiche Spuren hinterlassen, dorthin hatte man sie wohl getrieben. Auch das Gras war voller Blut, und da hat man auch zwei Zähne von ihr gefunden. Und Steine. Jede Menge Steine, an denen ihre Haut und ihr Blut klebten.«
»Soll das heißen, dass man die Frau zu Tode gesteinigt hat?«
Dass Jimmy Simms zur Familie Laurie gehörte, war trotz seiner mädchenhaft zarten Gesichtszüge nicht zu übersehen. In diesem Jahr war er dreißig geworden, aber der Bartwuchs in dem pickligen Gesicht war weich und spärlich.
Jimmys Vater sprach nicht mehr mit diesem Sohn, der in seinen Augen misslungen war, und ließ ihn auch nicht mehr ins Haus. Die Mutter aber schanzte ihm immer wieder abgelegte Sachen ihres Mannes zu. Die Hosenbeine konnte er aufrollen, das war okay, aber die Schuhe waren ihm, auch wenn er Zeitungspapier in die Spitzen steckte, viel zu groß, sodass er immer irgendwo eine Blase hatte und hinkte.
Er schlurfte den Gartenpfad zum Haus der Shelleys hinauf. Der alte schwarze Labrador kannte seinen Schritt, auch wenn er sich wegen der Blasen immer wieder ein bisschen anders anhörte, und hob wie immer duldsam, aber ohne große Begeisterung den mächtigen Kopf zur Begrüßung.
Jimmy langte in die Tasche des Anoraks, in dem er fast versank, holte ein sperriges Päckchen heraus und zeigte dem Hund das halbe Fischfilet, das er aus der Mülltonne hinter Jane’s Café gerettet hatte. Vor Jahren hatte er noch Fleisch mitgebracht, aber seit der Hund kaum noch Zähne besaß, musste er darauf achten, dass sich das Futter leicht kauen ließ.
»Babe Laurie ist tot«, sagte er zu dem Hund. Seit fünf Tagen schon begrüßte Jimmy ihn mit diesen Worten, als könnte ihm die Wiederholung zu besserem Verständnis verhelfen.
Der Hund schnupperte nur an dem Fisch und legte dann den grauen Kopf auf die Pfoten.
Die Sonne war untergegangen, und es wurde rasch dunkel. Jimmy war es sehr wichtig, sich nicht nach Anbruch der Dunkelheit im Freien erwischen zu lassen, heute aber beschloss er zu bleiben, bis der Mond aufgegangen war. Man konnte nie wissen, wie viel Zeit dem alten Hund noch blieb.
Der Labrador schlief eine Weile. Er knurrte leise und zuckte krampfhaft mit einem Hinterbein, und Jimmy sagte sich, dass er offenbar keine Freude an seinen Träumen hatte. Jetzt erwachte der Hund mit einem Ruck und hob den Kopf, bis sich der aufgehende Mond in seinen Augen spiegelte. Jimmy fuhr zusammen. Es sah aus, als ob die Augen plötzlich glühten.
Mit großer Anstrengung stand der Hund auf, kläffte und fing dann laut an zu heulen. Sehr bald würde er sterben, und Jimmy würde sehr einsam sein ohne ihn und das Band der Verzweiflung, das sie einte und von dem der Hund mit seiner Klage an den Mond so beredt Kunde gab.
Der Hund glaubte, dass sein Name aus einem langen hohen Ton und zwei Pfeifkadenzen von den Lippen eines Kindes bestand. Seit das Kind nicht mehr da war, hatte ihn niemand mehr so gerufen. Sie hatte das Undenkbare fertig gebracht, hatte ihn verletzt und blutend liegen lassen. Und Nacht für Nacht, Traum für Traum, ließ sie ihn wieder allein und brachte ihn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, ein wenig mehr um den Verstand.
Er öffnete das Maul und fletschte leise knurrend die Zähne, bis der kleine Mann neben ihm sich aufrappelte und humpelnd davonging.
Jetzt fing der Hund erneut an zu jaulen und fand in Alma Furgueson unten in Owltown eine Gefährtin. Der Hund heulte, und Alma schluchzte. Ihre Nachbarn stellten sich taub. Das seltsame Duett zog sich über Stunden hin.
Obgleich Alma sich die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte, sah sie die Steine fliegen, hörte sie auf Fleisch, Knochen, Zähne schlagen. Hörte, wie der Leib von Cass zerbrach.
Almas Nachbar war an diesen Radau seit langem gewöhnt. Jetzt aber nahm er das lärmdämmende Kissen von den Ohren und weckte seine Frau, denn was sie jetzt hörten, war etwas ganz Neues. Alma weinte im Gleichklang mit dem Hund.
Auch Mallory in ihrer Gefängniszelle horchte. Sie
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