Der steinerne Engel
immer reihte sich ein Schnapsladen an den anderen, und Charles sagte: »Kaum zu glauben, dass sich in einem so kleinen Ort derart viele Kneipen halten können.«
»Das sind alles so genannte Gästehäuser der Neuen Kirche«, erläuterte der Sheriff. »Im ganzen Ort gibt es keine einzige Schanklizenz. Mit Bargeld kommen Sie hier nicht weiter, deshalb bleibt auch nichts für den Fiskus hängen. Wenn Sie was trinken wollen, brauchen Sie einen Gutschein von der Kirche.«
Der Sheriff ging mit dem Tempo noch weiter herunter und wies auf ein zweigeschossiges Haus linker Hand. »Das ist Ed Lauries alte Pinte, eine echte Sehenswürdigkeit. Vor dreißig Jahren haben da im ersten Stock die einzigen Lauries gewohnt, die wir in der Gemeinde hatten.«
Das Haus war wie die anderen auch aus Holz und sehr schlicht gebaut, aber älter. Der Boden der Veranda hing durch, sodass es aussah, als ob sie böse grinste, und im Fenster blinkten schrille Logos von Biermarken. Jetzt erst bemerkte Charles, wie still es war. In einiger Entfernung hörte man Autos vorbeifahren, aber kein Vogellied. Da er sich schon daran gewöhnt hatte, in dieser Gegend auf Schritt und Tritt Vögel singen zu hören, gab ihm das zu denken.
»Hier hat Babe angefangen, als er fünf war. Damals hieß er noch Baby Laurie. Sein Papa hat ihn auf die Musicbox gesetzt, da durfte er predigen. Und nicht nur das. Eds Kneipe war unterhaltsamer als jedes Theater. Wenn man Lust hatte, konnte man jeden Abend hingehen und zugucken, wenn Baby Laurie einen der Gäste verhexte.«
»Meinen Sie Voodoo-Veranstaltungen?«
»Nein, nichts so Kompliziertes, Mr. Butler. Aber der Bengel war groß im Prophezeien. Wenn er voraussagte, Ihre Frau würde ein tot geborenes Kind zur Welt bringen, landete womöglich kurz vor der Niederkunft ganz aus Versehen ein Baseballschläger auf ihrem Bauch. Natürlich konnten Sie Baby Laurie bitten, durch Gebete den Zorn Gottes von Ihnen und Ihrer Familie abzuwenden. Und wenn Sie diesen Dienern des Herrn eine Spende daließen, kam Ihr Baby gesund und munter zur Welt.«
»Schutzgelderpressung? Der Vater war also …«
»Manchmal kümmerte sich auch einer von Babes fast erwachsenen Brüdern um die Drecksarbeit. Der Vater war der bestgehasste Mann in der Gemeinde St. Jude. Wäre Ed nicht an seiner Säuferleber zugrunde gegangen, hätten wir ihn früher oder später mit dem Gesicht nach unten im Bayou treibend gefunden. Übrigens war Babe seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Das heißt, dass es nicht wenige Menschen gab, die Babe den Tod wünschten?«
Schweigend setzte der Sheriff den Wagen wieder in Gang. Entweder wollte er die Frage nicht beantworten, oder es war ihm egal, wer Babe Laurie umgebracht hatte.
»Babes Brüder, sagen Sie, waren fast erwachsen, als Babe fünf war. Aber das ist dreißig Jahre her. Malcolm kann doch kaum über dreißig sein.«
»Malcolm ist einundfünfzig, nur ein paar Jahre jünger als ich.«
Charles musterte das faltige Gesicht des Sheriffs, die Hängebacken, das ergrauende Haar. Unmöglich! So sehr konnte er sich gar nicht geirrt …
»Ein komischer Kauz, dieser Malcolm«, meinte der Sheriff. »Wenn gemunkelt wird, dass er sogar noch älter ist, leistet er solchen Gerüchten noch Vorschub. Es macht ihm Spaß, wenn die Leute denken, dass er dem Geheimnis des ewigen Lebens auf der Spur ist. Vielleicht ist da ja sogar was dran.« Das klang eher sarkastisch. »Vor Jahren hätte man Babe und Malcolm fast für Zwillinge halten können, aber als Babe mit sechsunddreißig starb, sah er zehn Jahre älter aus als Malcolm jetzt. Vielleicht ist es dem mit seinem Bruder gegangen wie mit dem Bildnis des Dorian Gray. Babe ist moralisch verkommen, und Malcolm bleibt ewig jung.«
Charles staunte immer noch über seine Fehleinschätzung, was Malcolms Alter betraf, aber der Sheriff hatte seinen verwunderten Blick missverstanden.
»Denken Sie sich nichts dabei, Mr. Butler – das mit dem Bildnis des Dorian Gray hab ich wahrscheinlich von einem dieser Kärtchen, die in den Bubblegum-Packungen liegen.«
Charles hütete sich, in die Falle zu tappen, die der Sheriff für ihn aufgestellt hatte. »An Bubblegum kann ich mich noch erinnern«, sagte er. »Eine phantastische Erfindung. Gibt’s denn so was heute noch?«
»Sie armer ahnungsloser Mensch.« Jessop deutete aufs Handschuhfach. »Bedienen Sie sich.«
Als Charles die Klappe aufmachte, kam ihm ein ganzer Schwall von spielkartengroßen Packungen entgegen, denen der
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