Der steinerne Engel
abholen, wenn Sie hier fertig sind. Ich will nicht aufdringlich sein, Mr. Butler, aber ich sorge mich echt um Ihr Wohlergehen. Nehmen Sie mir das übel?«
»Nein, im Gegenteil, ich bin Ihnen sehr dankbar.« Und das war ehrlich gemeint, denn schließlich hatten sie ja eben einen Bubblegumbund geschlossen.
»Viel Spaß«, sagte Jessop, »aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, wagen Sie sich nicht vom Festplatz runter.«
Charles stieg aus und ging vorbei an den verlotterten Vans und Trucks, Wohnwagen und Imbissbuden über das Feld hinter dem Parkplatz. Von der Mitte der kahlen Flussschleife aus hatte er einen wunderbaren Blick auf die Zypressen am anderen Ufer des Bayou, die sich im Wasser spiegelten. In der Ferne flog – verstört durch den Lärm der schreienden und fluchenden Arbeiter – ein Silberreiher auf.
Der Reiher ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen, die langen Beine nach hinten gestreckt, wie schwerelos vom Luftstrom tragen. Der Fluss war voll glitzernder Sonnenflecken. Ein Fisch erhob sich aus dem Wasser nahe einer Reihe von Fangseilen, die am Ufer gespannt waren. Mit silbern blitzenden Schuppen kam er an die Oberfläche, als wollte er davonfliegen, aber gleich darauf zappelte er hilflos in den Schlingen und fiel in das aufgischtende Wasser zurück.
Charles konzentrierte sich jetzt auf die im Zentrum des Festplatzes aufgestellten Metallstangen. An jeder wehte ein rotes Fähnchen, und lange Seile hingen bis zum Boden herunter. Der höchste Mast war wohl die Firststange des großen, zu seinen Füßen flach ausgebreiteten Zeltes. Auf dieser Fläche hätte man bequem eine mittelgroße Hunderennbahn unterbringen können.
Von einer Ecke hörte man plötzlich Gesang. Vor einem Gospelchor in Jeans stand eine Frau, die mit ihrem Taktstock die Stimmen nach oben und nach unten lenkte. Unvermittelt brach sie die Probe ab und überschüttete einen Mann, der mit einem röhrenden Ghettoblaster vorüberging, mit Obszönitäten. Immer mehr Männer traten an das Zelt heran, die Flüche und Kommandos wurden lauter.
Charles hatte den Zeitpunkt gut abgepasst. Vor seinen Augen erhob sich das Zelt und verdeckte den Himmel. Mit jedem Lidschlag nahm es eine neue Gestalt an, während der in metallenen Ringen verankerte Zeltmantel von vielen Händen quietschend an den Stangen hochgezogen wurde. Die Leinwand gebärdete sich im Wind wie etwas Lebendiges, bockte und wehrte sich, schlug peitschend gegen die Leinen, aber dann war es geschafft: Das riesige Zirkuszelt stand in seiner ganzen Pracht da. An den Masten flatterten die roten Fahnen im Wind.
Charles spürte, dass jemand neben ihn trat, und erwartete fast, Maximilian Candle, den berühmten Zauberer, zu sehen. Doch Vetter Max war längst tot, und der Mann neben Charles war der einen Kopf kleinere Malcolm Laurie. Doch auch er war wohl so eine Art Zauberer, denn Charles hatte das Gefühl, geradewegs in seinen dunklen Blick zu stürzen.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Charles. Ich dachte mir schon, dass Sie Spaß daran haben würden.«
Malcolm hatte sich also die Mühe gemacht, sich nach seinem Vornamen zu erkundigen, ihn aber nicht gefragt, ob er ihn benutzen dürfe. Normalerweise hatte Charles nichts dagegen, dass man ihn beim Vornamen nannte, in diesem Fall aber empfand er die vertrauliche Anrede als aufdringlich.
Als Übergriff?
Raus aus meinem Kopf, Augusta!
Charles wandte sich wieder dem Zelt zu. Vier Männer zogen ein Neonschild hoch, um es an ein hohes Stahlgestänge zu hängen. Die Druckbuchstaben waren sehr groß, und Charles erschrak fast über die ungenierte Ankündigung: WUNDER ZU VERKAUFEN.
Mallory schüttelte so energisch die Federn von ihrer Schlafdecke, dass sie auf den Gang hinauswehten, wo der Sheriff für seine Stellvertreterin gerade eine Vorlesung über hausfrauliche Tugenden und die Behandlung gefährlicher Gefangener hielt.
»Ende des Monats muss ich dich so an die Behörde zurückgeben, wie sie dich geschickt hat, also tu, was man dir sagt, und sieh zu, dass du keinen Ärger kriegst.« Der Sheriff wedelte in der Luft herum, weil ihm Mallorys Federn ins Gesicht flogen. Seine Laune näherte sich einem gefährlichen Tiefpunkt.
Sehr gut. Mallory setzte sich aufs Bett und starrte, wie jeden Tag, auf die Wand.
»Zuerst lass sie die Hände durchs Gitter stecken, dann fesselst du sie mit Handschellen an die Stäbe, ehe du die Tür aufschließt. Alles klar? Und das Holster hängst du natürlich draußen auf.« Er deutete auf die
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